Sex, Lies and Cybercrime Politics

Überwachung ist in der Zeit nach Snowden kein dankbares Metier. Doch Lügen und Etikettenschwindel funktionieren nicht nur in der Werbung – wenn man sie nur oft genug wiederholt. Die Hoffnung: Wer rechtzeitig öffentlich seine Version der Wahrheit durchdrückt, formt die Realität nach dem eigenen Wunschdenken. So macht sich vor allem die Große Koalition ihre überwachte schöne neue Welt, wie sie ihr gefällt.
2013-05-19 03.27.20

Geldgeschenke und Angstskampagnen dürfen in keinem Wahlkampf fehlen. Prominentes Beispiel war ein Statement von SPD-Spitzenmann Siegmar Gabriel zum Amok-Lauf von Anders Breivik auf der norwegischen Insel Utøya. Im ARD wollte er SPD-Mitgliedern die Vorratsdatenspeicherung im Koalitionsvertrag schmackhaft machen. Sigmar Gabriel verkündete 2013 in einem ARD-Brennpunkt dreist: „[…] durch die dortige Vorratsdatenspeicherung, wusste man sehr schnell wer in Oslo der Mörder war[…]“. Dumm nur, dass es in Norwegen keine Vorratsdatenspeicherung gab. Der Täter wurde mit der Waffe in der Hand auf frischer Tat festgenommen. Lügen als Mittel zum Zweck – hier geben sich Union und SPD die Klinke in die Hand. Der Ex-Innenminister Friedrich (CSU) zeigte in einem Spiegel-Online Interview, was Überwachung alles leisten kann. „Wenn wir zum Beispiel den Täter nach dem ersten Mal verhaften, kann er kein zweites oder drittes Mal zuschlagen“, heißt es dort zur Frage, ob Videoüberwachung gegen Selbstmord-Attentate helfe. Wie genau das mit den Mehrfach-Selbstmordattentätern funktionieren soll, bleibt ein Mysterium. Der neue Innenminister de Maizière fackelte beim Europäischen Polizeikongress im Februar 2014 nicht lange. So warb er für die Vorratsdatenspeicherung mit der Aussage, den antisemitischen Serienmörder von Toulouse hätte man nur dank seiner Internet-Kontakte fassen können. Tatsächlich führte ein klassischer Tipp eines Motorradhändlers zu dessen Festnahme.

 

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Fakten sind was für Anfänger. Nachdem USA-Besuch von Ex-Innenminister Friedrich wurde verkündet: Durch PRISM und andere illegale Spionageprogramme seien zwischen 45 und 50Terroranschläge vereitelt worden. Fünf davon angeblich in Deutschland. Der Zweck heiligt also die Mittel, aus Sicht eines Innenministers. Belege für die Attentatspläne können aus Gründen der Inneren Sicherheit selbstverständlich nicht veröffentlicht werden. Sie fehlen bis heute. So wird die Bedrohungslage zur Glaubensfrage. Es gilt die Devise: Soll erst mal jemand kommen und das Gegenteil beweisen! Geheimdienste werden mit dieser Technik schnell zu einer nie versiegenden Quelle für immer neue Gefahrenlagen.

 

Stellen sie sich vor, nach Tschernobyl hätte die Regierung verkündet die Lösung sei nun in mehr und größere Atomkraftwerke zu investieren. Denn: Deutsche Atomkraftwerke sind absolut sicher, im Gegensatz zu den ausländischen. Außerdem käme es sonst zu massiven Stromausfällen. Ergo ist Atomkraft alternativlos. Kommt ihnen bekannt vor? Eine gängige Strategie, die auch in Sachen Überwachung aus der Mottenkiste geholt wird. Geheimdienste bauen Scheiße und was ist die Konsequenz der Großen Koalition? Was sind die Lehren aus Snowden? Richtig: Die Geheimdienste bekommen jetzt noch mehr Geld für die „Cyberabwehr“ und dürfen all ihre schönen Spielzeuge, die sich nicht gegen Spione sondern gegen 80 Millionen Otto-Normalbürger richten, behalten. Denn die Bundesregierung stellt fest: Geheimdienste sind alternativlos, sonst würden wir von ausländischen Geheimdiensten überrannt werden. Kein Wort von geheimen Kooperationen der deutschen Dienste, bei denen sie freiwillig unsere Daten nach Übersee pumpen. Währenddessen spielen sich im Landtag NRW interessante Dinge ab: Verschlüsselung ist Hexenwerk und statt verlässliche Standards zu nehmen werden lieber mit Steuergeld „Sicherheitslösungen“ in den USA eingekauft. Ja genau, das ist die Sicherheitstechnik, die sensible Daten von unseren politischen Vertretern sichern soll. Schon einmal versucht verschlüsselten Kontakt mit dem Bundestag aufzunehmen? Würde bei 99% der Abgeordneten bei einem Versuch bleiben. Doch statt ein paar Erstsemester Informatik einzustellen, die das eben fixen, wird beschlossen, lieber Millionen in Cyberabwehrzentren zu stecken. Und es bei den Fakten zu den tatsächlichen Zahlen nicht allzu eng nehmen. Hilft bestimmt. Nicht. Es gibt sogar noch ein paar Extras oben drauf: Fluggastdaten werden bald auch innerhalb der EU erfasst, Vorratsdatenspeicherung kommt, Passwörterabfrage für Geheimdienste, … und die Tatsache, dass Friedrich wegen Verdacht auf Geheimnisverrat und Strafvereitelung im Fall Edathy und nicht wegen Beihilfe zum Geheimnissverrat in der Snowden-Affäre zurücktritt, ist ein Tritt ins Gesicht eines jeden aufrechten Bürgerrechtlers.

 

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Politik ist Krieg, nur mit anderen Mitteln. Und im Krieg und in der Werbung ist bekanntlich vieles erlaubt. Der in der Werbung beliebte Etikettenschwindel findet sich längst in der Politik. Wortkreationen erlauben es Parteien, Themen wieder zu besetzen, obwohl man es beim ersten Mal vollkommen versemmelt hat. Raider heißt nun eben Twix. Ist ein Begriff wie die „Vorratsdatenspeicherung“ durch intensive Arbeit von Bürgerrechtsorganisationen verbrannt, wird einfach ein neuer Begriff gewählt. Passend dazu gibt es eine Kampagne um den bisherigen Makel mit positiven Bildern zu überkleistern. Wenn der Guss nur süß, klebrig und dickflüssig genug ist wird es schon keiner Merken. Die Union hätte die Vorratsdatenspeicherung aus ihrem Wahlprogramm gestrichen, hieß es im Sommer 2013 in allen Zeitungen. So weit traf das auch zu, nur war die an ihre Stelle getretene „Mindestspeicherfrist“ nichts anderes als Vorratsdatenspeicherung mit neuem Etikett.

 

Die Königsdisziplin der Meinungsmache ist schließlich das Umarmen des politischen Gegners. Diese Technik nutzt, asiatischer Kampfkunst gleich, die Kraft der Argumente des Gegners für die eigene Sache. Berlins Innenminister Heilmann (CDU) gab kürzlich in der Zeit bekannt, Vorratsdatenspeicherung bedeute ein *Mehr* an Datenschutz für alle Bürger. Der Wildwuchs der Anbieter bei der Datenspeicherung werde beendet und ein einheitliches Gesetz für Datenschutz und die Datensicherheit geschaffen. Dass Unternehmen Nutzer-Daten derzeit nur so lange speichern dürfen, wie für die Rechnungserstellung oder Beseitigung von technischen Störungen notwendig, wird selbstverständlich ausgespart. Bei der häufigsten Vertragsform, der Flatrate, findet eine Löschung sehr viel früher als bei der Vorratsdatenspeicherung statt. IP-Adressen dürfen derzeit nur für eine Woche gespeichert werden. Der Unions-Politiker Heilmann verkauft die Anhebung der Speicherfrist von einer Woche auf ein halbes Jahr also allen ernstes als Verbesserung für den Datenschutz. Als Mitbegründer der Werbeagentur Scholz & Friends kennt er eben die neuen Regeln der Politik in der Mediendemokratie: Dreistigkeit siegt. Laut Umfragen vertraut der Durchschnittsbürger Gebrauchtwagenhändlern mehr als Politikern. Also echt jetzt: Kein Wunder.

 

Schäublone

Für den geübten Innenpolitiker stellen Fakten kein Hindernis dar. Fehlen quantitative Studien und Statistiken für die eigene Position, wird Bezug genommen auf möglichst blutrünstige Kriminalfälle. Axt-Mörder, Kinderschänder und Terroristen säumen die Interviews der Überwachungs-Hardliner. Schließlich lernt der Durchschnitts-Wähler aus dem Vorabendkrimi: Die Polizei will nur den Täter fassen. Wir sind die Guten! Das Max-Planck-Institut veröffentlichte 2012 eine Studie zur Wirksamkeit der Vorratsdatenspeicherung bei der Kriminalitätsbekämpfung. Das Ergebnis war niederschmetternd für Überwachungsindustrie und innenpolitische Hardliner gleichermaßen. In den untersuchten Ländern wurden keine Hinweise auf eine erhöhte Aufklärungsquote festgestellt. In Deutschland war sogar die Aufklärungsquote bei Internetdelikten in den Jahren mit Vorratsdatenspeicherung rückläufig. Die Strafverfolgung im Netz ist auch ohne Vorratsdatenspeicherung bis heute erfolgreicher als die Strafverfolgung außerhalb des Netzes. Bleibt die Frage, was mit dem diffusen Gefühl der Unsicherheit in einem der sichersten Länder der Welt erreicht werden soll. Nun ist nicht nur in der Werbung bekannt, dass sich jedes Angebot durch geschicktes Marketing auch seine eigene Nachfrage schaffen kann. Die Rechnung lautet: Wer als starker Mann Angstpolitik sät, kann Wählerstimmen ernten.

 

Es ist nur konsequent, wenn der Netzaktivist und Künstler padeluun als Parodie auf die Rechtfertigungsorgie der Bundesregierung im Überwachungsskandal ironisch verkündet: “Ich habe allein im letzten Jahr mehr als 200 Anschläge verhindert. Aus Gründen der inneren Sicherheit kann ich ihnen keine weiteren Details geben. Sie müssen mir einfach vertrauen. Es ist zu ihrer eigenen Sicherheit.“ Auch im Auftreten parodiert er die üblichen Verdächtigen: Seriöser Anzug, auf der Krawatte steht fett „Security“. Was die Große Koalition kann, kann die Bürgerrechtssecurity schon lange. Wenn Innenpolitik sich auf Angstpolitik und Realitätsverdrängung statt auf Fakten stützt, brauchen wir Menschen, die das infrage stellen. Denn Überwachung gefährdet gerade dieses Infragestellen von Politiksprechblasen. Michael Rediske, Vorstandschef von Reporter ohne Grenzen, äußert sich besorgt über den Stand der Pressefreiheit: „Dass Länder mit einer langen Tradition freier Medien in ähnliche Sicherheitsreflexe verfallen wie Diktaturen, ist unerträglich.“

Vorratsdatenspeicherung und Geheimdienst-Schnüffelei gefährdet die vierte Gewalt der Demokratie: Eine freie Presse. Vorratsdatenspeicherung, das bedeutet, Persönlichkeitsprofile von 80 Millionen Bürgern. Darunter auch Journalisten. Wohin wir ausgehen, wen wir lieben, wem wir unsere Geheimnisse anvertrauen. Und glauben Sie mir, jeder hat etwas zu verbergen, sonst würden wir in Glashäusern wohnen. Befürwortet wird die Vorratsdatenspeicherung vor allem von Abgeordneten, die ihre eigenen Nebeneinkünfte aus Datenschutzgründen nicht offen legen wollen.

*Sie können jetzt verzweifelt lachen*

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