Ein <3 an die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace

Heute vor 17 Jahren wurde die Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace veröffentlicht. Es gibt nicht ein Netz, sondern viele. Dieses Netz sind wir alle. Das Netz wurde entwickelt, um im Fall eines Atomschlags kommunizieren zu können. Eine Hydra mit Millionen und Abermillionen von Köpfen. Wir alle sind Knotenpunkte von Datenströmen. Das Netz ist nicht nur eine Technologie. Es ist auch eine Metapher. Eine Metapher dafür, wie Gesellschaft aufgebaut sein kann. Es ist die eine große zeitgenössische Utopie. Unabhängig von Ländergrenzen und Sprachbarrieren halten wir uns alle an das selbe Protokoll. Das Netz ist was du draus machst. Es ist weder Chaos noch Anarchie. Es ist eine spontane Ordnung. Unsere Ordnung, unsere Unabhängigkeit. Und sie macht etwas mit uns Menschen, davon bin ich überzeugt.

Im Netz können wir alles sein. Und nichts.

Wir können mit Identität spielen. Uns ausprobieren. Verbindungen eingehen und lösen. Informationsströmen folgen und zu ihnen beitragen. Sie lenken und gestalten. In dieser Realität werden andere Dinge virtuell, es ist ein kollektives Gedankenexperiment von realem Ausmaß. Allein der Zugang zählt. Im Netz ist es egal ob wir alt oder jung, arm oder reich, hässlich oder schön sind, gesund oder krank, gebildet oder ungebildet. Im Netz ist es egal welchen Abschluss wir haben und wie hoch unser Gehaltscheck am Ende des Monats ist. Privatsphäre hat hier ihren Platz, wenn wir es nur wollen. Wir können das sein, was wir von uns preisgeben. Wir können Teil von etwas großem sein, oder für uns allein. Und wir können Umwege gehen, ohne uns rechtfertigen zu müssen, wenn wir es nur wollen.

Das Netz ist die eine kollektive externe Festplatte unserer Gesellschaft.

Eine Chronik in Echtzeit, in der jeder mitschreiben kann. Es ist ein dezentrales Gehirn mit unendlich vielen Synapsen, die alle mit einander kommunizieren. Das Netz ist eine einzige endlose Unterhaltung auf Augenhöhe. Mit wechselnden Partnern. Unser digitales Biotop bietet unendlichen Lebensraum. Abseits des Mainstreams ist plötzlich überall. Platz ist genug da. Und wenn nicht, wird einfach ein Server dazu gestellt. Hier schreiben nicht die Sieger die Geschichte, sondern die vielen schreiben viele Geschichten. Keiner sitzt am längeren Hebel, wenn wir es nur wollen.

Im Netz ist oft genug der Weg das Ziel.

Hier stolpern wir andauernd über fremde Gedanken. Nehmen einige mit. Die große Wahrheit ist uns immer einen Link voraus. Menschliche Neugier hat das Netz zu dem gemacht, was es ist. Nie war Recherche einfacher. Nie unterhaltsamer. Es sind die Umwege, die den Weg erst wertvoll machen. Das Netz ist die umfassendste Bibliothek der Menschheit. Voll ungeschriebener Bücher, die so viel mehr über uns erzählen, als jeder durchdachte Roman. Es ist jene Unperfektheit, die dem Netz Leben einhaucht. Das Netz ist voll davon, man muss es nur sehen können. Neugier braucht offene Strukturen. Das Netz ist ein einziges Einfallstor für Ideen. Ein Gesellschafts-Inkubator, der mehr ist als die Summe seiner Teile, wenn wir es nur begreifen wollen.

Das Netz schreibt seine eigene Ökonomie.

Sharing is Caring. Von der Konsum- zur Remixkultur schafft jeder von uns kleine Gedankendatenstücke. Teilen tut nicht weh, Innovation ebenso wenig. Für jeden ist genug da, wenn wir es nur wollen. Wir stehen alle auf den Schultern von Giganten. Ein Markt, der mit Träumen handelt und dabei ohne Knappheit auskommt. Das Netz treibt der orthodoxen Ökonomie den Angstschweiß auf die Stirn. Neue Märkte brauchen neue, mutige Modelle. Keine Gated-Communities, sondern echte Freiräume. Wir können sie uns nehmen, wenn wir es nur wollen.

Das Netz ist zugleich Realität und Metapher

Für das was Gesellschaft sein kann, wenn wir uns nur trauen. Autorität hat hier eigene, andere Regeln. Das Netz gibt den vielen eine Stimme. Diese Realität ist nicht virtuell, sie ist real, weil wir sie real machen, weil wir das wollen. Das Netz ist keine Parallelwelt, kein Abbild der bestehenden Ordnung, sondern hat seine eigene Logik. Wissen ist Macht. Netzpolitik stellt die Machtfrage. Die Informationsdemokratie kann sich ihr eigenes Protokoll schreiben. Wenn wir es nur wollen. Wenn wir es nur wollen.

„Governments of the Industrial World, you weary giants of flesh and steel, I come from Cyberspace, the new home of Mind. On behalf of the future, I ask you of the past to leave us alone. You are not welcome among us. You have no sovereignty where we gather. […] We will create a civilization of the Mind in Cyberspace. May it be more humane and fair than the world your governments have made before.“

John Perry Barlow, „A Declaration of the Independence of Cyberspace“ 8. Februar 1996

* Telepolis: Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace

(Bild: Charlotte von Hirsch)


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3 Kommentare

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  2. Großartiger Text. Eine 100%ige Beschreibung meine Gedanken zur Essenz, Struktur, Möglichkeiten, dem kollektiven Geist des Internet – den leider viele (v.a. Politiker) aufgrund ihrer oberflächlichen Benutzung auch nach 20 Jahren Internetgeschichte noch immer nicht verstanden haben.
    Aber für die Hevelinge unter uns kann – und sollte – man diesen Text ja vielleicht mal ausdrucken!

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