Klarnamenpflicht, Anonymität und die Machtfrage

Anonymität und Pseudonyme sind ein Teil der Netzkultur. Denn sie haben das Netz zu dem gemacht was es heute ist. Ein virtuelles Biotop für politische Debatten. Ein virtueller Raum in dem analoge Widrigkeiten angeprangert werden. Virtuelle Meinungsäußerungen sind heute längst Teil der alltäglichen politischen Debatte. Doch nicht jeder betrachtet diese neue Freiheit mit Wohlwollen. Die Liste deutscher Politiker, die immer mal wieder mit der Forderung nach Klarnamenpflicht im Netz aus der Deckung treten, ist lang. Und sie wird immer länger.

Zuletzt hat sich Bundesinnenminister Friedrich nach den Attentaten in Norwegen wieder einmal „aus Gründen der Inneren Sicherheit“ eine Klarnamenpflicht bei Blogs gewünscht. Der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche Schneider forderte nach dem Mordfall im Emden und der falschen Verdächtigung eines Jugendlichen in sozialen Netzwerken aus „moralischen Gründen“ das gleiche. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hält jedoch dagegen. „Der Rechtsstaat muss Internet-Pöbeleien aushalten“, sagte sie in einem Interview. Doch mit dieser fortschrittlichen Meinung steht sie in der Politik leider oft genug auf verlorenem Posten.

Klarnamenpflicht: Der heilige Gral der Werbewirtschaft

Unternehmen haben ein massives wirtschaftliches Interesse an Klarnamen. Viele Menschen denken, Googles Hauptgeschäft sei die Internet-Suche und Facebook verdiene sein Geld als Soziales Netzwerk. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Das Kerngeschäft von Facebook und Google ist Werbung. Und Werbung braucht personalisierte Daten. Daten, die am besten mit Klarnamen verknüpft sind. Google erwirtschaftet 96% seiner Gewinne in Höhe von 38 Mrd US-Dollar mit Werbung. Der Markt für Daten ist längst ein Milliardengeschäft.

In dieser Woche rief die Google-Tochter YouTube seine Nutzer dazu auf, ihr Pseudonym durch einen Klarnamen zu ersetzen und wenn möglich doch auch mit den anderen Profilen der ca. 72 Google-Dienste zusammenzulegen. Dies wurde durch die „Vereinfachung“ der Datenschutzbestimmungen im März diesen Jahres ermöglicht. Damit ist Google nicht allein. Facebook „bat“ in den letzten Wochen seine Nutzer, dem Unternehmen bei der „Verbesserung“ der Facebook-Dienste zu „helfen“. Das Unternehmen fragte Nutzer per Pop-Up: „Ist dies der echte Name deines Freundes?“.

Natürlich würde keines der Unternehmen jemals öffentlich zugeben, dass es bei der Forderung oder „Förderung“ von Klarnamen-Nutzung um wirtschaftliche Interessen geht. Stets wird dabei ein anderes Argument in den Vordergrund gestellt: Die „Diskussionskultur“. Wir sehen also: Shitstorms, Flamewars und Trollwiesen sind sowohl für Politiker als auch Unternehmen beliebte Scheinargumente um Klarnamen zu fordern. Doch geht diese Gleichung wirklich auf?

Kollektivismus, Individualismus? Egal! Anonymität ist Teil der Kultur

In der Fachzeitschrift „Surveillance & Society“ findet sich ein sehr interessanter Beitrag zur Klarnamenpflicht in Ost-Asien. Der Autor vergleicht darin den Bezug der Bürger zur Anonymität in Japan, Korea und China und kommt dabei zu der Schlussfolgerung, dass Anonymität in angeblich stärker kollektivistischen und durch Buddhismus und Konfuzianismus geprägten Gesellschaften eine bedeutende Rolle für die Entfaltung der Persönlichkeit zukommt.

Insbesondere in Japan hat Anonymität, Nutzung von Pseudonymen und Datenschutz einen hohen gesellschaftlichen Status. Die Regierung hat daher nie ernsthafte Versuche unternommen, Klarnamenpflicht einzuführen. Der Gründer des Japanischen Forums 2Chan bringt es auf den Punkt: „Wenn Nutzer-Accounts mit einer Identität verknüpft sind führt das dazu, dass Diskussionen sich zu einem Kritisier-Spiel entwickeln.“ Bei anonymen Nutzer-Accounts hingegen, wüsste man gar nicht, auf wen man beleidigt reagieren solle. Anonymität biete daher mehr noch als Pseudonymität die Möglichkeit, Debatten auf Inhalte zu reduzieren und persönliches außen vor zu lassen.

Südkorea: Wie man Klarnamenpflicht politisch durchboxt

In Südkorea haben Klarnamenpflicht und Registrierungszwang eine lange Geschichte, aus der die Netz-Community viel lernen kann. Südkoreanische Regierungsvertreter begannen 2003 mit einer Kampagne für ein „sicheres und sauberes Internet“, wobei sie sich für die Nutzung von Klarnamen im Netz aussprachen und Anonymität als Wurzel so ziemlich jeden Übels verurteilten. Selbstverständlich wurde auch von einem Anstieg der „Cyber-Kriminalität“ gesprochen. Doch die Öffentlichkeit ließ sich nicht überzeugen.

Schlüsselereignisse, die schließlich doch zu der weitgehenden Einführung einer Registrierungspflich geführt haben war eine krude Kombination aus Proteste gegen US-Importe von Rindfleisch, ein Shitstorm gegen eine Hundebesitzerin und der Selbstmord des Film-Sternchens Choi Jin-sil. Zugegeben, es klingt absurd, aber diese Komponenten scheinen in Südkorea ein Möglichkeitsfenster für repressive Netzpolitik geschaffen zu haben.

2005 erlebte Korea dann seinen ersten großen Massen-Shitstorm. Auslöser war die schnell um sich greifende Empörung über eine Hundebesitzerin, deren Hund sein Geschäft in der U-Bahn verrichtete. Sie weigerte sich, das Malheur zu beseitigen. Ein Mitreisender stellte ein Video des Vorfalls ins Netz. Darauf hin wurde die Frau identifiziert und Gegenstand öffentlicher Debatten und verbaler Auseinandersetzungen. Die Regierung nutzte diesen Shitstorm politisch aus, um zwei neue Regel zur Klarnahmenpflicht einzuführen.

Politische Äußerungen im Wahlkampf nur noch mit Klarnamen

Durch die erste Gesetzesänderung wurden Nutzer, die in der Wahlkampfzeit zwölf Tage vor der Wahl Kommentare oder Beiträge auf Nachrichtenseiten zu politischen Debatten einstellten dazu verpflichtet, ihre Beiträge mit echten Namen zu veröffentlichen. Es ist dabei offensichtlich, dass die öffentliche Empörung durch den Spin der Regierungsvertreter dazu genutzt wurden, die politische Debatte im Netz einzuschränken. Denn ein Bezug zu dem Hundebesitzer-Fall lässt sich hier beim besten Willen nicht feststellen. Die zweite Gesetzesänderung verpflichtete Betreiber von Webseiten mit mehr als 300.000 Nutzern und Nachrichten-Seiten mit mehr als 200.000 Usern zu einer Klarnamen-Politik.

Als es 2008 im Rahmen der Aufhebung des Importverbots von Rindfleisch aus den USA zu Massenprotesten in Südkorea kam, machten Regierungsvertreter wieder Foren und Internetblogs dafür verantwortlich. Und das obwohl dem private Fernsehsender MBC anscheinend eine initiale Bedeutung bei der Verbreitung von Ängsten in Bezug auf die Erkrankung an Kreuzfeld-Jakob zukam.

Im selben Jahr erhängte sich das populäre koreanische Film-Sternchen Choi Jin-sil. Zuvor waren Gerüchte über die Schauspielerin im Umlauf, die sie für den Selbstmord eines Kollegen verantwortlich machten. Die Regierung machte in der anschließenden Debatte auf die steigende Zahl von „Cyber-Gewalt“ aufmerksam und verknüpfte dies wieder mit der Forderung nach einer stärkeren Kontrolle des virtuellen Raumes. Ein neues und verschärftes Gesetz verpflichtete nun alle Internet-Seiten mehr als 100.000 Nutzern zu der Durchsetzung der Klarnamenpflicht. Statt bisher 37 waren nun 153 südkorenische Webseiten betroffen, internationale Seiten wurden von der gesetzlichen Pflicht ausgenommen.

Wissenschaftliche Studien belegen: Klarnamen sind keine Lösung

Es gibt mittlerweile zahlreiche wissenschaftliche Studien, die sich mit dem Verhalten von Internetnutzern und Klarnamenpflicht auseinandersetzen. Eine Studie der Korean Communication Commission und der National Internet Development Agency stellte 2007 fest, dass Klarnamenpflicht nicht die erhoffte Verbesserung der Diskussionskultur bewirkt hat. Der Anteil beleidigender Äußerungen am Gesamtaufkommen nahm lediglich um ca. 1-2% ab.

2011 zeigte eine Studie der amerikanischen Carnegie Mellon Universität, dass nur ein geringer Zusammenhang zwischen Klarnamen und Höflichkeit besteht. Insbesondere war bei der Studie festzustellen, dass zwar nach der Einführung der Klarnamenpflicht die Gesamtzahl der beleidigenden Postings geringfügig zurückging, die Nutzungsintensität von Online-Plattformen jedoch eine weitaus stärkere Korrelation mit Höflichkeit aufwies. Die Studie belegte einen sehr hohen Zusammenhang zwischen Nutzeraktivität und Höflichkeit. Sporadische Nutzer wiesen einen weitaus höheren Anteil beleidigenden Äußerungen oder Schimpfwörtern auf als routinierte Nutzer, gemessen an der Gesamtzahl ihrer Beiträge.

Obgleich selbstverständlich die Forschungsmethode und die Kategorisierung „beleidigender“ Inhalte nicht unumstritten ist, zeigen die Studien aus Südkorea, dass Medienkompetenz und Nutzungsverhalten eine weitaus größere Rolle für den Umgang miteinander zukommt, als der Anonymität. Beleidigende und diffamierende Inhalte wurden lediglich marginal gesenkt. Menschen, die zuvor durch intensive Beleidigungen anderer aufgefallen waren, änderten ihr Verhalten meist nicht durch die Einführung der Klarnamenpflicht. Die These, Anonymität befördere schlechtes Benehmen kann somit als wissenschaftlich unhaltbar verworfen werden.

Nebenwirkungen: Sicherheit, Unsicherheit und Freiheit

Klarnamen sind nicht nur für Werbewirtschaft und Regierungen von gewissem Nutzen. Auch Kriminelle begrüßen die Umsetzung einer konsequenten und möglichst umfassenden Klarnamenpflicht. Denn nie war es einfacher in Südkorea, an authentische Nutzerdaten zu kommen, die man gewinnbringend verkaufen oder für kriminelle Zwecke nutzen kann. Und für technisch versierte Nutzer mit mittelmäßiger krimineller Energie ist es zudem kein Hindernis, sich einer „geliehenen“ Identität zu bedienen und trotz Klarnamenpflicht unerkannt zu bleiben.

Nach einem großen Datenleck im Jahr 2011, bei dem 35 Millionen Nutzerdaten eines südkoreanischen Sozialen Netzwerks in den Äther entschwanden, kam wieder Bewegung in die Klarnamen-Debatte. Die Regierung kündigte an, die umstrittene Maßnahme wieder zurückzunehmen. Aus Sicherheitsgründen. In China versucht die Regierung währenddessen die Klarnamenpflicht weiter voranzutreiben um demokratische Bewegungen nach Möglichkeit im Keim zu ersticken. Aus Sicherheitsgründen, versteht sich. Doch die chinesische Bevölkerung signalisiert klare Ablehnung.

Als in der Stadt Xiamen mehr als 10.000 Menschen gegen den Bau einer Chemiefabrik auf die Straße gingen, machten die Behörden schnell den Schuldigen für diese „Unruhen“ aus: Freie Meinungsäußerung. Denn das Internet bietet den Menschen die Chance sich zu vernetzen und Protest zu organisieren. So etwas ist in China politisch nicht erwünscht.

Fazit: Kein Fußbreit der Klarnamenpflicht!

Das Argument, Shitstorms und Beleidigungen können durch Klarnamenpflicht aus der Welt geschaffen werden, entbehrt jeglicher wissenschaftlichen Grundlage. Das Beispiel der Einschränkung der Meinungsfreiheit im Netz in Südkorea zeigt, wie Regierungen öffentliche Debatten immer wieder nutzen, um eigene Interessen durchzusetzen. Und tatsächlich sind ähnliche Muster von deutschen Akteuren wie Friedrich und Kirchenvertreter Schneider zu beobachten. Der Feldversuch Südkorea belegt: Sowohl die „Innere Sicherheit“ als auch der Wunsch nach einem „sauberen“ Internet sind nur Scheinargumente. Scheinargumente, die sich auch in China größter Beliebtheit erfreuen. Und das sollte uns zu denken geben.

Das Recht auf pseudonyme Identitäten und anonyme Kommunikation ist nicht zuletzt eine Machtfrage. Autoritäre Regime gehören weltweit zu den stärksten Befürwortern der Abschaffung der Anonymität im Netz. Denn es geht bei dem Recht auf anonyme Kommunikation um nicht weniger als das Recht auf freie Meinungsäußerung. Es geht um Demokratie. Um Menschenwürde. Und auch um Freiheit.

Pseudonyme und anonyme Kommunikation haben das Netz zu einem Lebensraum für Meinungsfreiheit und politische Debatten gemacht. Pseudonyme sind Teil des Weltkulturerbes der Netz-Community.

Lasst sie uns daher bewahren, um der Zukunft willen.

[Foto: @bartjez]


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7 Kommentare

  1. […] Selbstverständlich sind Anonymität und Pseudonyme seit den Anfängen ein Bestandteil des Internet… und gehören dort auch hin. Die Wahrscheinlichkeit, dass durch die einstige Forderung der Klarnamenpflicht von Innenminister Friedrich Terrorismus verhindert wird ist mehr als nur gering. In dieser Begründung sehe ich eher maßlos überzogenen Aktionismus – Hauptsache man hat etwas getan. Ob es Sinn macht oder nicht wird erst gar nicht überprüft. […]

  2. Was dieser Artikel m.M. nach ganz gut macht, ist die Bearbeitung der These, dass eine Klarnamenpflicht die Diskussionskultur fördert oder eben nicht. Ebenso weist er auf die Probleme mit der Verfolgung unliebsamer Meinungen hin. Aber ich muss chriss zustimmen, dass das Thema LFB hier gar nicht angesprochen wird.
    Anonymität finde ich super und im freien Meinungsaustausch bzw. bei der Meinungsbildung durchaus zu begrüßen. Das Problem ist aber, dass bei LFB Entscheidungslegitimität herrgestellt werden soll durch Übertragung von Stimmen. Bisher konnte mir noch keiner erklären, wie man das Problem löst. Sollte einer das schaffen, wäre diese Debatte vermutlich schneller beendet als sie entstanden ist. Bis dahin finde ich den Kompromiss wie er momentan in Berlin gefahren wird gar nicht so schlecht. Die Akkreditierung übernimmt eine Stelle des Vertrauens und für Außenstehende ist es nicht möglich die Klarnamen zu sehen. Man könnte sicher darüber diskutieren, ob man noch weiter geht und nur noch die Admins die Klarnamen sehen, aber das könnte genauso gut ins Gegenteil umschlagen und zu einer Technokratie führen, wie sie oft bei wikipedia unterstellt wird.
    Bis dahin warte ich gespannt auf die Lösung der Frage, wie man eine eindeutige Person Pseudonym Verbindung herstellt. Vielleicht gibt es eine Lösung aus der Richtung von Secret Sharing vielleicht bleibt das Problem unlösbar. Aber so lange keiner versucht das Problem zu lösen kann man noch hunderte pro und contra Artikel verfassen.

  3. schön und gut, aber was hat das jetzt mit #lqfb zu tun?
    zumal im lqfb durchaus auch pseudonyme mit vorab-akkreditierung technisch möglich ist. ohn akkreditierung o. klarnamen ist das lqfb was fürs klo, stichwort wahlcomputer. dahin wäre das berühmte deliberationstool der piraten.

  4. Insbesondere in Japan hat Anonymität, Nutzung von Pseudonymen und Datenschutz einen hohen gesellschaftlichen Status.

    In Japan ist allerdings auch weitgehend ein anderes Verständnis von Höflichkeit und gegenseitigem Respekt vorhanden. Insofern passt auch der Verweis der Originalautoren auf die kollektivistische Prägung solcher Gesellschaften. Die Situation in Europa unterscheidet sich im westlichen Teil (mittlerweile sicherlich auch im östlichen) davon, da hier wesentlich mehr Individualismus herrscht (vgl. auch Rechtsprechung/Argumentation bei Kollektiv- bzw. Allgemeinbeleidigungen).

    Die Proteste der spanischen BergarbeiterInnen gegen die Schuldenkrise werden übrigens auch mit einer China-ähnlichen Argumentation durch die Staatsmacht kriminalisiert. Vordringliches Ziel müsste also das Zurückdrängen solcher Herrschaftsweisen sein.

    Disclaimer: Ich bin natürlich auch gegen die Klarnamenpflicht — nur damit keine Missverständnisse aufkommen.

  5. Sehr guter Artikel! – Ergänzend möchte ich erwähnen, dass facebook zwingend die Angabe einer Telefonnummer verlangt, falls man versucht, sich anonym via TOR anzumelden.

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