Kaffee auf

Ziemlich genau vor sechs Jahren habe ich wie jeden Morgen den Briefkasten geleert. Beim Kaffee habe ich mir dann einen an mich adressierten Brief von einer wildfremden Person durchgelesen. Das bedrohliche war nicht der Inhalt. Und ganz sicher auch nicht die Schriftart („Comic Sans“). Sondern dieser Gedanke: „Der weiß, wo ich wohne“. Im Vergleich dazu waren Mails mit Vorschlägen, wie, man müsse Menschen wir mir „eine Kugel zwischen die Augen verpassen“, geradezu harmlos.

Wer sich heutzutage gegen Nazis engagiert, ist sicherlich kein ängstlicher Mensch. Trotzdem ändert so mancher nach und nach sein Verhalten. Das bedeutet etwa: Adresse beim Meldeamt sperren. Direktes Umfeld so gut es geht schützen. Offline „Gefahrengebiete“ meiden. Nicht ängstlich zu sein, bedeutet schließlich nicht, naiv zu sein. Man gewöhnt sich zwar irgendwann daran, als „Linke Asylantenschlampe“ beschimpft zu werden. Beim Hate-Poetry-Slam wird „Vergewaltigungslyrik“ aus dem eigenen Mailpostfach vorgetragen. Trotzdem fühlt es sich nach wie vor falsch an.

Wie gehen wir als Gesellschaft mit dieser neuen Normalität um? Gute Frage. Ich habe jedenfalls die Schnauze voll von Debatten, in denen es heißt, dass Leute, die regelmäßig solchen Mist abbekommen, eine Mitschuld an der Spaltung der Gesellschaft tragen würden. Weil sie „übertreiben würden“ in ihrem Umgang mit der Neuen Rechten. Seit wann ist es bitte sehr in Deutschland kontrovers, Rassisten konsequent vom Diskurs auszuschließen? Waren wir da nicht schon mal weiter?

Ruprecht Polenz beschwert sich über Bild-Schlagzeile zum angeblichen "Ausschluss" der AfD beim Kirchentag.

Diejenigen, die in Feuilletons darüber diskutiert, ob wir schon in einer „linken Meinungsdiktatur“ leben, und sich in erster Linie darum zu sorgen scheinen, „was man denn noch sagen darf“, wirken auf mich unglaublich abgehoben. Wer so etwas meint, weiß wahrscheinlich nicht, wie sich das anfühlt, wenn man auf dem Nachhauseweg regelmäßig schneller geht. Aus Angst vor den Typen hinter einem, mit den einschlägigen Tattoos.

Wie viele von denen, die jetzt mehr Toleranz für eine Partei mit rechtsextremen Gewalttätern in ihren Reihen fordern, haben schon einmal für sich abwägen müssen, welche mitgeführten Gegenstände sich im Fall eines Angriffs zu einer Waffe umfunktionieren lassen könnten (Schlüssel, Bleistift, Haarspange)? Und wie man genug Zeit gewinnen könnte, um abzuhauen. Es gibt in diesem Land tausende aufrichtig besorgte Bürger, für die das mittlerweile Alltag ist. Darf man das heute eigentlich noch sagen? Oder ist das schon zu unbequem?

Was passiert hier gerade?

Würde ein Zeitreisender den Menschen aus dem Jahr 2009 erzählen, was sich 2019 zusammenbraut, sie würden das für alles andere als normal halten. Weder, dass eine rechtsextreme Partei in mehreren Bundesländern laut Umfragen bald stärkste Kraft werden könnte ist „normal“. Noch das Messer-Attentat auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Und erst recht nicht die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.

Bürgermeister und Lokalpolitiker schmeißen an vielen Orten hin, weil sie sich den Morddrohungen gegen ihre Familie schlichtweg nicht gewachsen fühlen. Rechte Brandanschläge sind mittlerweile so gewöhnlich geworden, dass die Tagesschau nur noch in Ausnahmefällen darüber berichtet. Im Jahr 2009 wäre das alles Stoff für einen dystopischen Roman gewesen, der von Literaturkritikern das Prädikat „übertrieben & realitätsfern“ verliehen bekommen hätte. Heute halten wir das alles für vollkommen normal.

Es klingt wie der Plot eines schlechten Films: Ein rechtsextremes Netzwerk in der Bundeswehr bereitet sich auf den Bürgerkrieg vor. Mit dabei: Soldaten des Sondereinsatzkommandos KSK. In großem Stil werden Waffen für „den Tag X“ beiseite geschafft, geheime Schießtrainings veranstaltet und Todeslisten für Politiker und Aktivisten angelegt. Ein Soldat konstruiert sich sogar eine falsche Identität als „Flüchtling“. Er fliegt erst auf, als er eine Waffe auf der Toilette des Wiener Flughafens versteckt. Ob geplant wurde, ein Attentat zu verüben, dass man dann der Fake-Identität des „Flüchtlings“ in die Schuhe schieben kann, ist unklar.

Stellt Euch einfach mal vor, was los gewesen wäre, wenn eine islamistische Verschwörung in der Bundeswehr aufgeflogen wäre. Es wäre DAS beherrschende Thema in allen Zeitungen und Talk-Shows dieser Nation gewesen. Womöglich wäre eine Verfilmung mit Till Schweiger in der Rolle des mutig recherchierenden Journalisten geplant. Statt dessen: Ein Thema unter vielen. Es ist vor allem diese Ruhe, die mir Sorgen macht. Denn sie zeigt, wie sehr wir mittlerweile abgestumpft sind.

Die neuen Nazis haben den Marsch durch die Institutionen schon vor Jahren angetreten, ohne dass sich in der politischen Mitte groß wer daran gestört hätte. Die Folgen sind heute unübersehbar. Polizisten sollen Drohbriefe verschickt haben, die mit „NSU 2.0“ unterschrieben waren. Immer wieder wurden Informationen über anstehende Hausdurchsuchungen oder Festnahmen an rechte Netzwerke durchgestochen. Kaum jemanden würde es überraschen, wenn der Ex-Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz insgeheim längst AfD-Mitglied wäre. Vor allem bei der Union und den Polizeigewerkschaften wurde das Problem Rechtsextremisten im Staatsdienst jahrelang kleingeredet. Und statt darüber zu sprechen, diskutieren wir jetzt schon wieder darüber, ob wir den Rechten auch ja genug Raum in politischen Debatten gegeben haben? SRSLY?

Wo stehen wir gerade?

Nach rechtsextremen Attentaten hieß es aus konservativen Kreisen häufig: „Wir verurteilen jeglichen Extremismus… Einzeltäter… tragisch…“. Das klingt nach Beschwichtigen, Relativieren, Kleinreden. Dabei ging es nie um den bedauerlichen Einzelfall. Es ging immer um organisierte gewaltbereite rechtsextreme Strukturen.

Tweet mit Auflistung der rechtsextremen Gewalttaten seit 1970

Mich beschämt die aktuelle Debatte einfach nur noch. Wer Toleranz für Intoleranz fordert, versteht einfach nicht, wo wir gerade stehen. Wie weit sich die rote Linie innerhalb der letzten 10 Jahren bereits verschoben hat. So viel ist sicher: Wenn die Union in den letzten Jahren genau so leidenschaftlich über verbale Brandstifter in den eigenen Reihen diskutiert hätte (Grüße an Frau Steinbach!), wie über Kopftücher, Kruzifixe in Klassenzimmern oder Burkinis – Deutschland wäre heute ein sicherer Ort.

Ehrlich, ich hab den Kaffee auf. Ich wünsche jedem, der meint, „die Linken“ würden „hyperventilieren“ mit ihrer „Political Correctness“ und „Ausschließeritis“, dass er eines Tages aufwacht und sich plötzlich im Körper eines jungen muslimischen Mädchen in Dortmund-Dorstfeld wiederfinden. Einfach nur, damit er einmal am eigenen Leib erleben kann, wie das so ist, wenn man plötzlich selbst zum Gegenstand der „Debatte“ dieser „besorgter Bürger“ wird. Die Folgen solcher Diskurse lesen einige eben nicht in den Feuilletons. Sie erleben sie Tag für Tag vor der eigenen Haustür. Es ist so leicht, von „aushalten“ und „Toleranz“ zu schwafeln, wenn man selbst nur auf der Zuschauertribüne sitzt. Das sind Debatten für Privilegierte. Die einfach nicht checken (wollen?), dass sie bei so manchem „besorgten Bürger“ nur etwas weiter unten auf der Abschussliste stehen…


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9 Kommentare

  1. Du hast eine sehr tolle Art Dinge klar und Deutlich mit kurzen Sätzen zu beschreiben. Dies hat mir auch bei den paar Seiten gefallen, die ich als Leseprobe aus deinem Buch gelesen habe. Ich habe es mir heute gekauft. Ich wünsche dir bei deiner politischen Arbeit für eine gute Gesellschaft und deinem Widerstand gegen die schlechte GesellschAFD weiterhin viel Erfolg.

  2. Ich bin voll und ganz deiner Meinung. Danke für deinen Einsatz. Mach weiter so!!!

  3. Ich kann das nur unterschreiben.
    Ich habe schon vor längerem bei anderen Gelegenheiten geschrieben: Ich habe keine Angst vor Imigranten – ich habe Angst vor den Rechten! Und diese Angst ist in den Jahren immer größer geworden.

  4. Danke.
    Es ist gut, wenn jemand die richtigen Worte findet. Und die eigene Sprachlosigkeit tut weh.

    Ich glaube, dass es an der Zeit ist, die AfD zu verbieten. Diese Forderung hätte schon längst öfter laut werden müssen.

  5. Liebe kattascha,

    habe Dich erst vor wenigen Tagen über eine alte Chaosradio-Folge „kennengelernt“.

    Worin ich Dir zustimme, ist dass die Debattenkultur kaputt ist. So sehr, dass auch ich meine Worte gründlich abwägen muss, um nicht unter falschen Verdacht zu geraten und Projektionsfläche zu bieten, da ich mich nicht radikal auf eine Seite stelle, sondern mich eher zwischen den Fronten sehe und das Verbindende suche.

    Ich habe nicht verfolgt, was genau Du getan hast, was einen solchen Hass nach sich zog und es tut mir leid, dass Du das durchmachen musstest und musst.

    Deine Wut, die Du im Blog-Eintrag zum Ausdruck bringst ist verständlich und gerechtfertigt. Inhaltlich würde ich gerne zu den Dingen, die Du ansprichst ewas sagen und vielleicht auch diskutieren, aber da es in dem Eintrag viel um Gefühle geht, die ich Dir gar nicht absprechen möchte, ist es vielleicht gar nicht möglich, ohne dass es als Relativierung verstanden wird.

    Lass‘ es mich dennoch im Kurzen versuchen.

    Die „Forderung nach Toleranz für Intoleranz“, wie Du es formulierst – ich vermute, Du beziehst Dich auf Gauck – ist unfair übersetzt. Wenn Du Dir die Zeit nimmst, Dich auf ihn einzulassen und ihm zuhörst, wirst Du feststellen, dass er mit seinem Beitrag etwas völlig anderes im Sinn hatte, als sich für Rechtsextreme zu öffnen. Sein Auftritt bei Markus Lanz böte sich dafür an, dort wird auch ausdifferenziert, was in der Debatte allgemein schiefläuft und leider auch bei Dir zu finden ist, wenn Du von „den Rechten“ redest.

    Interessanterweise ist Deine Wahrnehmung und Argumentation in Bezug auf die Medienberichterstattung zu rechtsextremistischen Gewalttaten praktisch identisch zur Gegenseite, die beklagt, dass es bei islamistischen Gewalttätern immer bloß Einzeltäter…tragisch heißen würde und entsprechende Anschläge so normal seien, dass gar nicht mehr groß über sie berichtet würde und sie nur ein Thema unter vielen seien. Ich kann ein solches zweierlei Maß, wie Du es „den Medien“ vorwirfst, nicht wahrnehmen.

    Ich kann besonders in den letzten Tagen diese „Ruhe“ nicht nachempfinden. Wenn ich die Startseiten der großen Nachrichtenportale wie SPON, ZON usw. besucht habe, waren jeweils gleich mehrere Artikel zu Lübcke prominent platziert, teils schien sogar der eventuell bevorstehende Iran-Krieg unwichtiger.

    Zu Einzeltäter…tragisch möchte ich noch sagen, dass es sich hier lohnt, die Feinheiten der deutschen Sprache zu beachten. Ein Einzeltäter bedeutet nicht ein Einzelfall, sondern dass der Täter allein gehandelt hat. Dass „tragisch“ so oft verharmlosend wahrgenommen wird (wie gesagt, denselben Vorwurf gibt es häufig in Forenkommentaren zu Artikeln über islamistische Gewalttaten), kann ich nicht nachvollziehen. Es bedeutet nicht „Unfall“ sondern etwas ensetzliches, katastrophales, desaströses, fürchterliches, … ich finde es schwer, diesen Begriff überhaupt noch zu steigern.

    Mir ist zwar klar, dass es sich um Polemik handelt wenn Du sagst, dass Deutschland heute ein sicherer Ort wäre, wenn man statt über Kopftücher etc. lieber über verbale Brandstifter geredet hätte. Ich halte es dennoch für eine etwas (nicht abwertend gemeint) ver-rückte Wahrnehmung, denn zum Einen weißt Du selbst, dass es wochen- und monatelange Debatten darüber gab, die schlußendlich zum NetzDG führten, und anschließend noch einmal welche über das NetzDG selbst, … zum Anderen ist es eben nicht so, dass Diskussionen alleine überhaupt zu irgendetwas führen würden. Ja, es gab episch breite Diskussionen über Verschleierung und den Islam, aber daraus gefolgt ist praktisch nichts. Nicht einmal Verschleierung von kleinen Kindern in Schulen wurde verboten, und nach wie vor darf in vom Ausland gesteuerten Moscheen zum Hass gegen Ungläubige angestachelt werden, nach wie vor darf in vielen Bundesländern Diyanet den Islamunterricht an Schulen gestalten, usw. usf.

    Okay, jetzt sind es doch nicht nur ein paar Stichworte geworden… wie gesagt, nichts davon soll Dir Deine Wut streitig machen und ich bedaure ebenfalls, dass es so ist, wie es ist.

    Lass‘ Dich nicht unterkriegen,

    Lieber Gruß

  6. Vielen Dank für die Erinnerung. Es ist so wichtig, im persönlichen Umfeld nicht „tollerant“ zu sein, sondern sich klar zu positionieren, um dieser Normalität einhalt zu gebieten. Auf in den Kampf!
    Peter

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