Kinder von Mutter-Bloggern auf Instagram: Influencer wider Willen

Ich kenne Tim*, seit er wenige Tage alt ist. Mit zusammengekniffenen Augen schaut er seine Mutter an. Doch seine Mutter schaut nicht auf ihn. Sie schaut auf das Smartphone-Display und lächelt für ein Selfie vor dem Spiegel sich selbst an. Dieses erste Foto von Tim, was seine Mutter kurz nach der Geburt auf Instagram postete, ist leider symptomatisch für die Umstände, in die er hineingeboren wurde. Denn Tims Mutter ist Mikro-Influencerin. Das bedeutet: Sie verdient Geld damit, sich und ihren Sohn auf Instagram in Szene zu setzen.

Das eigene Kind als Sprungbrett zur Influencer-Karriere

Der Account wurde gestartet, als Tims Mutter im 8. Monat schwanger war. Jedes Foto dreht sich seitdem entweder ums Mutter-Dasein oder den Sohn. Die ersten Schnappschüsse sind noch nicht perfekt durchgestylt und aufgehübscht gewesen. Zwischendurch ist auch ein verwackeltes Bild dabei. Es gibt noch keinen einheitlichen Photoshop-Filter. Trotzdem wirkt der Account, als hätte sich hier jemand von Anfang an Gedanken gemacht. Darüber, was Mütterherzen höher schlagen lässt. Darüber, in welcher Ausstaffierung Babys besonders niedlich erscheinen. Und vor allem darüber, wie man Mutter-Influencer wird.

Heute ist Tim 4 und es gibt hunderte Fotos von ihm auf Instagram. Wie er lacht, wie er sabbert, wie er an einem Eis schleckt. Ich weiß wie sein Kinderzimmer aussieht. Und welche Farbe sein Schlafanzug hat. Auf Instagram kann ich ihm dabei zusehen, wie er in einer makellosen Pastell-gefilterten Umgebung aufwächst. Seine Kindheit wird perfekt vermarktet. Nicht nur seine Mutter hält Tims Lachen für unbestechlich. Wer sich durch das Profil scrollt wird dutzende mit dem Hashtag #werbung versehene Bilder finden, auf denen Tim seine neuen Klamotten vorführt, mit Duplo spielt oder sich gesponsertes Essen in den Mund steckt und dabei süß schaut. Für Unternehmen sind Kinder wie Tim ein Geschenk. Einen „authentischeren“ Werbeträger, als einen 4jährigen, der noch gar nicht begreifen kann, was er da tut, gibt es nicht. Zu Tims 4. Geburtstag schickt eine Firma die passende Party-Deko. Seine Mutter lacht. Tim lacht. 1000 Menschen gefällt das.

Wie viel kostet die unbeschwerte Kindheit?

Ich frage mich, was Tim von der ganzen Sache halten wird, wenn er erwachsen ist. Wird er sich bei seiner Mutter dafür bedanken, dass sie ihre mittlerweile fast 10.000 Follower mehrmals die Woche mit neuesten Updates aus seinem Leben versorgt hat? Wird es ihm peinlich sein? Werden ihn seine Klassenkameraden eines Tages deshalb mobben? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist das ja auch der Beginn einer wunderbaren Karriere als Model oder Schauspieler. Wahrscheinlicher ist aber, dass es das nicht ist. Es gibt hunderte, tausende Kinder wie Tim. Tim wird wahrscheinlich einfach lernen müssen damit zu leben, dass seine Kindheit eine öffentliche Angelegenheit war. Und seine Mutter wird eines Tages ihrem Sohn erklären müssen, was das ganze Theater sollte. Ob das die Vorteile einer „Kooperation“ mit „tollen Marken“ wie Lego und anderen aufwiegt, wage ich zu bezweifeln. Vielleicht will Tim ja gar keine Marke sein. Sondern einfach nur Kind.

Privatsphäre ist wichtig, um sich unbeobachtet ausprobieren zu können. Für Kinder ist dieser Schutzraum von besonderer Bedeutung. Auch, weil sich die Art und Weise, wie sie von der Welt gesehen werden wollen, im Laufe der Pubertät mehrfach ändern wird. Bilder von sich als Baby oder Kindergarten-Kind sind so manchem Teenager grundsätzlich peinlich. Und zwar unabhängig davon, ob Erwachsene das Bild für „niedlich“ oder „hübsch“ halten. Ich frage mich, wie Tims Eltern ihrem Sohn eines Tages das Konzept von Privatsphäre erklären werden. Werden sie so etwas sagen, wie: „Du hast das Recht „Nein“ zu sagen, wenn jemand unabgesprochen Bildern von Dir ins Netz stellt.“ Wird Tim dann fragen: „Etwa so, wie bei Mama damals?“

Tim wächst als öffentliche Person auf. Sein Image und seine Marke werden sorgfältig von seiner Mutter inszeniert. Doch was ist, wenn Tim eines Tages feststellt, dass er keine Lust mehr hat auf die Rolle, die sie ihm zugewiesen hat? Dank moderner Technologien zur Gesichtserkennung könnte es passieren, dass ein Foto, auf dem Tim ein Duschgel in die Kamera hält, auf ewig mit ihm verknüpft sein wird. Er kann das nicht wissen, er ist 4. Ob seine Mutter das begreift, weiß ich nicht.

Hashtag „MeineGroßeLiebe“

Tims Mutter verwendet gerne Hashtags wie #meinsohn #meinstolz #meinegroßeliebe. Ich würde meiner großen Liebe niemals aufbürden, meinen ungelebten Traum zu verwirklichen. Dafür sind Kinder nicht da. Sie müssen ihren eigenen Weg finden und Eltern sollten sie dabei unterstützen. Wer ständig Bilder von seinen Kindern postet, weil er die Likes und Kommentare als Bestätigung braucht, sollte sich statt dessen vielleicht ein Haustier anschaffen. Das ist in 10 Jahren auch nicht sauer auf einen, weil man seine Kindheit für eine handvoll Gratis-Markenprodukte verkauft hat.

Ich weiß nicht was man dagegen unternehmen kann, dass Eltern ihre Kinder als Sprungbrett für die eigene Influencer-Karriere missbrauchen. Ich würde mir aber zumindest von Unternehmen wie LEGO wünschen, dass sie damit aufhören, diese Art der Werbung durch ihre Marketingabteilung zu fördern.

*Name zum Schutz des Kindes geändert. Mir geht es nicht darum, eine einzelne Mutter an den Pranger zu stellen, sondern die allgemeine Entwicklung zu beschreiben. Tim ist leider kein Einzelfall.


Dir hat dieser Beitrag gefallen? Das freut mich sehr! Dieser Blog finanziert sich ausschließlich über Leser-Spenden. Meine Kaffeekasse ist entweder über paypal.me/kattascha oder das Konto mit der IBAN-Nummer DE84100500001066335547 (Inhaber Katharina Nocun) erreichbar. Oder bei Steady. Natürlich freue ich mich auch, wenn Ihr das kommente Buch „Gefährlicher Glaube – Die radikale Gedankenwelt der Esoterik“ (erscheint am 20.09.2022) vorbestellt :-)

6 Kommentare

  1. Danke für diesen Artikel. Da steht viel wahres drin. Die Sache mit der Gesichtserkennung ist grundsätzlich ein Problem. Instagram ist hier eh schon eine wunderbare Trainings-Plattform für Machine Learning. Kinderfotos sind ein wahrer Datenschatz: da kann nicht bloß das Gesicht analysiert werden sondern auch gleich die Regeln nach denen es sich verändert.

  2. Ich halte davon auch wenig. Als Babies und Kleinkinder bekommen sie diese Öffentlichkeit noch nicht so mit. Da macht es für sie keinen Unterschied, ob das Photo auf für die ganze Welt auf Instagram gepostet wird oder in einer WhatsApp-Gruppe nur die Familie und enge Freunde errreicht. Schlimmer finde ich in diesem Stadium den ständigen Inszenierungswillen, auch im Privaten. Ständig filmt und knipst Mama jede Bewegung ihres Kindes, fordert zur Wiederholung auf, „lach doch mal“.

    Ob dem Arbeitskollegen oder zehntausenden Followern – solche Bilder werden stolz gezeigt. Und Kinder übernehmen solche Präsentationsformen. Je einen 7jährigen seine Geburtstagsgeschenke im Stile eines Unboxing-Videos einer imaginären Zuschauerschaft demonstrieren/kommentieren gesehen? Gruselig.

  3. Schlimm, wie jemand in seiner Eitelkeit, Geltungssucht und vielleicht auch aus finanziellem Interesse sein Kind zum Accessoire degradiert … .

  4. Es gibt ja das „Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“. Irgendsowas in der Art scheinen Mütter zu haben, die ihr Kind zum ungefragten shooting-star erklären. Ich halte zwar nix davon, abweichendes Verhalten immer gleich zu pathologisieren, aber sieht man hier sehr deutlich, wie Menschen ohne Medienkompetenz (verständlich, sie hatten das nie in der Schule) mit Smartphone & Co pötzlich technische Mittel in die Hand gegeben werden, deren Wirkung sie nicht begreifen. Hätte die shooting-süchtige Mutter ihr Kind früher auf einen Marktplatz gesetzt und sich mit dem Megafon danebengestellt um die Aufmerksamkeit aller Passanten auf ihr tolles Kind zu richten? Sicher nicht, selbst die nicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte zeig mir, dass du ein Mensch bist! * Time limit is exhausted. Please reload CAPTCHA.