Anwesenheitspflicht: Das unentschuldigte Fehlen der Politik im Bundestag

Politikverdrossenheit scheint auch im Parlament um sich zu greifen. Bei der Abstimmung des neuen Meldegesetzes im Bundestag ist wieder einmal deutlich geworden, welchen geringen Raum inhaltliche Debatten im Plenum einnehmen. Das Gesetz wurde in ganzen 57 Sekunden durchgewunken. Anwesend war ein trauriges Häufchen von Parlamentariern, die um 20:52 den Staat zum Adresshändler erhoben. Die Opposition war empört. Doch warum lässt sie es dann bitte sehr zu, dass eine kleine Minderheit dieses Gesetz durchwinkt und macht nicht von ihrem Recht gebrauch, eine Beschlussfähigkeit des Bundestages zu prüfen?!

„Der Bundestag ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist. Vor Beginn der Abstimmung kann die Beschlussfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf Prozent der Abgeordneten angezweifelt werden. Wird sie auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht, ist in Verbindung mit der Abstimmung die Beschlussfähigkeit durch Zählen der Stimmen festzustellen. Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen zählen dabei mit.

Ist der Bundestag beschlussunfähig, hebt der Sitzungspräsident die Sitzung auf. Ein Verlangen auf namentliche Abstimmung bleibt jedoch in Kraft.“

So ein Antrag auf Prüfung der Beschlussfähigkeit hat schließlich bereits beim Betreuungsgeld ganz ausgezeichnet geklappt. Warum also nicht auch beim Meldegesetz die Karte mit dem Hammelprung ziehen?

Der Hammelsprung zur Demokratie

Sowohl Grüne, als auch SPD und auch Linke haben im Anschluss das neue Meldegesetz aufs schärfste kritisiert. Doch ihre Chance das Gesetz zu verhindern nutzten sie nicht. Bei der Debatte um das Betreuungsgeld ging ein Aufschrei durch die Regierungskoalition als von diesem Recht gebrauch gemacht wurde. Dabei erscheint es doch intuitiv selbstverständlich, dass bei offensichtlicher Beschlussunfähigkeit die Opposition diesen Joker spielen muss. Trotzdem war das Geschrei groß und die Regierungskoalition sprach von Trickserei. Doch ist es zu viel verlangt, dass mindestens die Hälfte der Parlamentarier anwesend sind, um eine Abstimmung durchzuführen, die demokratisch legitimiert sein soll? Wenn nicht so,… wie denn dann?

Vielleicht hat das Nichtstattfinden jeglicher Form von Debatte im Bundestag beim Thema staatlicher Adresshandel auch damit zu tun, dass der Antrag plötzlich per Änderungsantrag vom Opt-In zum Opt-Out wurde. Mit dem ursprünglichen Entwurf vom November 2011 hatte das dann sehr wenig zu tun. In diesem relativ kurzen Zeitraum fand keinerlei öffentliche Debatte statt. Die geringe Zahl der Abgeordneten die es für notwendig erachteten, bei dieser Abstimmung anwesend zu sein zeigt, dass auch der parlamentarische Protest durchaus noch ausbaufähig gewesen wäre. Die Chance, das Gesetz per Hammelsprung platzen zu lassen und anschließend die (absehbare) Öffentlichkeit dafür zu nutzen, das Meldegesetz in die Zeitungen zu bringen und öffentlich Druck auf die Bundesregierung auszuüben, blieb ungenutzt. Vielleicht, weil bei einem Hammelsprung Schäfchen aller Fraktionen gleichermaßen gefehlt hätten. Aber das ist natürlich nur Spekulation.

Das ungeschriebene Gesetz

Vielleicht hat das Versagen der Opposition von ihren Rechten Gebrauch zu machen auch damit zu tun, dass zahlreiche Abgeordnete regelmäßig durch Abwesenheit in Debatten glänzen und es bei Sitzungen regelmäßig die Möglichkeit gibt, eine Abstimmung genau daran scheitern zu lassen. Wenn die Karte „Beschlussunfähigkeit“ einmal konsequent gespielt werden würde, würde dies eine massive Veränderung der Arbeitsbedingungen für Parlamentarier mit sich bringen – und das betrifft sowohl Regierung als auch Opposition. Wer regelmäßig Phoenix verfolgt, weiß wovon ich spreche. Es ist zum Verzweifeln, wenn ich in diese gähnende Leere starre, in der eigentlich Demokratie und Repräsentation stattfinden sollte. Die von einigen Fraktionen andernorts vehement geforderte Anwesenheitspflicht wird bei sich selbst nicht ganz ernst genommen, wie es scheint. Schließlich gibt es wichtigeres zu tun, als parlamentarische Politik zu betreiben, so die Botschaft an den Bürger. Man glänzt durch Abwesenheit – und das in vielerlei Hinsicht.

Parlamentarier -> Parlament

Ich weiß nicht, wann sich diese Unsitte des stillschweigenden Hinnehmens der Abwesenheit echter politischer Vertretung im Bundestag eingebürgert hat. Ich weiß nur, dass der Blick in eine leere Sitzung für die meisten Wähler ein Schlag ins Gesicht ist. Wer nicht bereit ist seine Wähler in Abstimmungen und Sitzungen zu repräsentieren, sondern lieber anderweitigen Verpflichtungen nachgeht, sollte einmal tief in sich gehen und über die Ursachen nachdenken. Derjenige scheint nämlich die Jobbezeichnung „Parlamentarier“ nicht wirklich verstanden zu haben.

Vom Diskurs zum Selbstgespräch

Wenn ich schon einmal dabei bin, parlamentarische Unsitten aufzuzählen, nenne ich der der Vollständigkeit halber noch eine, die mich besonders beschämt: Der fehlende Respekt vor dem politischen Diskurs. Wenn ich Phoenix verfolge, sehe ich, dass einige Parlamentarier mit allem möglichen sehr intensiv beschäftigt sind. Nur nicht damit, dem anderen zuzuhören. Wie Christopher Lauer in einer vielgelobten Rede im berliner AGH sehr richtig festgestellt hat, folgt alles einem sehr routinierten Muster. Jemand redet, die eigene Fraktion klatscht, alle anderen sind maßgeblich mit sich selbst beschäftigt. Das Foto des Finanzministers Schäuble, der während der Debatte um die Verschiebung von Steuermilliarden Sudoku spielte anstatt den Argumenten der Opposition zu folgen ging um die Welt. Geändert hat sich wenig. Eher nichts. Das muss sich ändern.

Debatte? Diskurs? Das Parlament erscheint leider in vielen weniger beachteten Abstimmungen eher als Schaubühne einer Demokratiesimulation mit mäßig überzeugenden Statisten, die alle ihrem eigenen Handlungsstrang folgen, anstatt als Schauplatz einer Debatte, die auf dem Austausch von Argumenten basiert. Ich frage mich nur, für wen dieses Schauspiel aufgeführt wird. Denn der Zuschauer, der bei Phoenix einmal reinschaut und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, findet doch offensichtlich nicht, dass diese Form der Kommunikation als „politische Debatte“ verstanden werden kann. Es ist leider oft genug ein politisches Selbstgespräch – Politischer Autismus in Reinstform.

Fazit: Mehr Selbstdisziplin wagen, Nebenbeschäftigungen absagen!

Ich wünsche mir politische Vertreter, die das Vertrauen, welches in sie gesetzt wurde nicht enttäuschen. Ich möchte, dass Abgeordnete den Job, den sie machen ernst nehmen und sich ganz auf ihn konzentrieren. Nebenbeschäftigungen die zu chronischer Abwesenheit bei Abstimmungen führen sind eine Zumutung für den Wähle und die Demokratie. Es ist ein Zeichen der Wertschätzung für Wähler, den politischen Gegner – aber auch für das Prinzip der Demokratie -, wenn man sein möglichstes tut, um den Ansprüchen an eine politische Debatte gerecht zu werden.

„Der Bundestag ist mal voller und mal leerer, …“ , heißt es so schön.

Der Weg zu einem guten Diskurs ist lang und beschwerlich, wie Habermas sehr schön beschrieb. Doch ein erster Schritt wäre zumindest die Anwesenheit. Im zweiten Schritt, das Nutzen der Anwesenheit zur Kommunikation. Aktiv und passiv.

 

(Bild: Miriam Juschkat)


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