Wahlkampf wie eingeschlafene Füße

Bis auf die schrecklichen Plakate mit gephotoshopten Anzugträgern merkt man so gut wie nix vom Wahlkampf. Das liegt vielleicht auch daran, dass die meisten Leute die Wahl nur für eine Formalität halten. Für die Jungen ist Angela Merkel ewige Bundeskanzlerin. Die Älteren wünschen sich weder Kohl (Herrscher über geheime Parteispendenkonten eines Waffenhändlers) noch den stets perfekt getönten Schröder (Russischer Ölexperte) zurück.

Der Schulzzug ist längst abgefahren. Da hilft auch kein lustiges Gif mehr. Mich beschleicht eine Mischung aus Fremdschämfaktor und Mitleid, wenn ich ihn doch einmal im Fernsehen dabei erwische, wie er um Aufmerksamkeit bettelt. Berlin ist halt nicht Würselen. Und zum Glück auch nicht Brüssel. Die Euphorie bei Schulz‘ Nominierung als Kandidat sagt doch mehr über den Zustand der SPD, als über Martin Schulz. SRSLY – Martin Schulz verströmt den Charme eines Einwohnermeldeamtes. Und nein, das ist kein Lookismus, denn das hat weder mit seinem Alter noch mit seinem Aussehen zu tun. Bernie Sanders ist schließlich auch nicht gerade ein Jungspund.

Aber Bernie ist ein epischer Kandidat gewesen, weil er sich getraut hat radikale Forderungen aufzustellen. Er ist cool, weil er innerhalb seiner eigenen Partei als Außenseiter Rückgrat zeigte. Und er war eine echte Alternative, weil junge Menschen in den USA einfach andere Sorgen haben als hier (Krankenversicherung als Luxusgut & Studienschulden die einem das Genick brechen). Sein Killer-Feature ist und war, dass er einfach keinen Dreck am Stecken hatte. Alles, womit seine politischen Gegner ihn bewarfen („Kommunist“, „Hat sich von der Polizei auf Demos wegtragen lassen“, „Snowden-Begnadiger“) waren keine Bugs, sondern Features. Das Bild, wie er als junger Mann von der Polizei auf einer Demo abgeführt wird, gibt’s als T-Shirt.

Martin Schulz hingegen redet nicht nur wie ein Politiker. Er steht durch das, was er die letzten Jahre alles in Brüssel durchgewunken hat (Handelsabkommen, etc.), auch inhaltlich für business as usual. Die Leute sind nicht dumm. Aus dem ehemaligen Präsidenten des EU-Parlaments kann man halt keinen Kämpfer gegen das Establishment machen, der den Bundestag aufmischt. Sorry, nee. Echt nicht. Wer business as usual will wählt Merkel. Die Schulz-Euphorie war zwar nur ein Strohfeuer. Sie zeigt aber auch: Eine ganze Menge Leute wollen Veränderung. Nur Schulz ist halt nicht Veränderung, das ist das Problem.

Die Lage ist doch folgende: Bernie Sanders diskutiert auf Youtube mit Gangster-Rappern – Martin Schulz besucht den Kleingartenverein. Beim gemeinsamen Grillen sagt er sicher total vernünftige Sachen. Aber es reißt halt niemanden mit, wenn einer der üblichen Anzugträger verspricht, hier und da an einigen Schrauben zu drehen. „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen„, hat Helmut Schmidt mal gesagt. Sorry, aber das ist Bullshit. Wer keine Visionen hat, den braucht eine satte Republik nicht zum Bundeskanzler wählen.

Ehrlich SPD, ich habe Euch noch nie gewählt. Ich bin auch kein Mitglied. Aber reißt Euch doch bitte endlich zusammen, ja? Wenn schon nicht für Euch, dann doch wenigstens für Menschen außerhalb Eurer Partei. Denn ohne Euch sind linke Mehrheiten traditionell eher schwierig.


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9 Kommentare

  1. Danke für Ihr Engagement auf den verschiedenen Ebenen. Ich habe gerade nicht viel zu sagen, wollte aber etwas dafür tun, dass der letzte Kommentar zu Ihrem Artikel nicht ganz oben stehen bleibt, da er von einem Sympathisanten dieser unsäglichen neuen Partei zu kommen scheint.
    Alles Gute weiterhin für Sie.

  2. Hallo.

    Von mir aus können sie weiter Björn Höcke einen Nazi nennen – uns AfD-Wähler interessiert das nicht. Solange die AfD die einzige Partei ist, die Klartext spricht wenn es um Asylbetrüger mit bis zu 16 Scheinidentitäten, Taschendiebe, Antänzer, Vergewaltiger, Gefährder und Terroristen geht, wählen wir sie. Im übrigen glaube ich nicht, daß Herr Höcke Gaskammern errichten, Polen überfallen oder in Rußland einmarschieren will – sei es auch nur um die Demokratie an der Wolga zu verteidigen. Uups, ich schweife ab..

    Im Zuge der Asylantenflut kamen Menschen zu uns die ein völlig anderes Bild vom Umgang mit Frauen und Homosexuellen als wir Deutsche haben, von der Art der Müllentsorgung, genauso wie von der Nachtruhe und ähnlichen Dingen des friedlichen und geordneten Zusammenlebens. Und solange sie als gebürtige Polin uns Deutsche deswegen für Nazi-Sympathisanten halten, solange werden wir die AfD wählen. Und wissen sie was? Wenn es ihnen hier nicht passt, dann gehen sie einfach wieder zurück in ihr Heimatland Polen wo sie hingehören.

    Gute Heimreise.

  3. Ich habe vom Wahlkampf außer Plakaten noch gar nichts mitbekommen, aber ich sehe auch nicht fern und bin nicht bei Facebook. Auf der Straße findet der Wahlkampf (noch) nicht statt. Mal sehen was die nächsten Wochen hergeben. Allerdings ist mir das auch gar nicht so wichtig, ich lese tatsächlich Wahlprogramme und schaue mir an was die Parteien bisher so getan haben. Das Schulz nicht wie Bernie funktioniert, hat nicht nur mit seiner Person zu tun sondern auch mit der Tatsache, wie allgemein Medien und Politik (vor allem Kandidatennominierung, das fördert die Show) hier und in den USA funktionieren. Ich brauche keine Rampensau sondern die Gewissheit, dass die SPD nicht bei erster Gelegenheit wieder umfällt, egal wer vorne steht.

  4. Der Fairness halber muss man dazu sagen, das Helmut Schmidt diesen Satz nur gesagt hat, weil er die vorhergehende Frage des Journalisten einfach nur dämlich fand. Dumme Frage, dumme Antwort halt. Hat er selber kurz vor seinem Tod in einem seiner letzten Interviews zu Protokoll gegeben.

    Aber ansonsten gebe ich Dir Recht.

  5. Trifft wie üblich den Nagel auf den Kopf.
    Ich selbst bin mittlerweile 28, kenne als aktiver Wähler nur Merkel, erst als Schwarz/Gelb dann als Schwarz/Rot, Ich habe nie CDU gewählt aber ehrlichgesagt war mir jede Wahl aufs neue Merkel lieber als die „Alternative“ die die SPD angeboten hat.
    Seit der großen Koalition ist die politik der SPD so weit rechts gedriftet, dass man sie durchaus da einordnen kann wo mal die CDU war, das eröffnet dem CSU Anteil der CDU extremere Politik zu vertreten ohne als das da zu stehen was es ist, nämlich rechts. (Ähnliches Symptom wie bei den Amis)
    Wir brauchen eine anständige links orientierte Partei die die sozialen Missstände in unserem Land endlich wieder gerade biegt und weder die SPD und noch die CDU sind Kandidaten dafür. Ich meine allen Ernstes, die SPD Führung lehnt doch Koalitionen mit der Linken schon mal kategorisch ab, das sagt doch alles. Wenn der Dieselskandal eins gezeigt hat dann, dass die Wirtschaftsinteressen in der deutschen Politik eine zu große Rolle spielen und eine Partei notwendig ist die bei klaren Gesetzverstößen auch mal richtig die Daumenschrauben anziehen kann. Die fundamentalen Wirtschaftszweife auf denen die deutsche Wirtschaft ruht sind momentan im Umbruch und ohne richtige legislative Anreize werden die hisigen Firmen erst dann merken, dass sie die Trends verschlafen haben wenn es schon lange zu spät ist, wie so üblich und in der Vergangheit schon mehrfach gezeigt. (Stichwörter Automatisierung, Verbrennungsmotoren, Grundeinkommen, Digitalisierung, Studienfinanzierung)

  6. Ich bin ja der festen Meinung, dass man Parteien nicht so sehr aufgrund von Wahlkampfversprechen wählen sollte, sondern vor allem aufgrund ihres Handelns in der Vergangenheit. Gerade beim Thema Datenschutz kann man sehr gut sehen, welchen Parteien man da vertrauen kann und welchen nicht unbedingt. Gucke eher auf Seiten wie http://www.abgeordnetenwatch.de als auf Wahl-o-mat ;-)

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