Die Brandmauer, das sind letztendlich wir alle.

Als im August 1992 Rechtsextremisten einen Wohnkomplex in Rostock-Lichtenhagen in Brand steckten, war ich fünf Jahre alt. Meine Familie war wenige Jahre zuvor aus Polen eingewandert. Im Fernsehen wurden verstörende Bilder gezeigt, wie rund 3000 Menschen den Tätern zujubelten. Wenige Monate später wurden drei Menschen in Mölln bei einem rechtsextremen Brandanschlag ermordet. Ich versichere Euch: Es ist unmöglich, sich irgendwo wirklich zuhause zu fühlen, wenn man Angst um das Leben seiner Familie haben muss.

Die Correctiv-Recherchen belegen einmal mehr, was längst auf der Hand liegt. Es geht beim Anstieg rechtsextremer Gewalt nicht um bedauerliche Einzelfälle. Das sind keine Einzeltäter, die sich im luftleeren Raum radikalisieren. Darum ging es damals nicht und heute noch viel weniger. Wir haben es hier mit organisierten Strukturen von Demokratiefeinden zu tun. Organisierte Strukturen, deren Netzwerke mittlerweile bis in den Bundestag reichen. Weil wir es zugelassen haben. Denn Rassismus ist nicht der einzige Nährboden auf dem die Saat des Hasses gedeihen kann. Ein anderer ist die Gleichgültigkeit. Zur Wahrheit gehört auch, viel zu viele in dieser Gesellschaft haben viel zu lange geschwiegen. Doch damit muss jetzt Schluss sein.

Ich war Mitte 20, als der AfD-Gründer Bernd Lucke vom „Bodensatz der Gesellschaft“ sprach und wahrscheinlich auch meine Familie meinte. Ich war Ende 20, als Beatrix von Storch meinte, man könne an der Grenze auch auf Kinder schießen. Im selben Jahr veröffentliche die AfD-Baden-Württemberg einen Beitrag auf ihrer Webseite über mich, in dem es hieß: „Ihren polnischen Hintergrund, mit dem sie gerne kokettiert und den sie auch gegen die AfD anbringt, erwähne ich wegen Bedeutungslosigkeit nicht.“ Es folgten Morddrohungen. Einer der Täter schrieb, man solle mich im KZ vergasen. Das Ziel solcher Kampagnen ist klar: Einschüchterung. Sie wollen uns mundtod machen. Aber wisst ihr was: Wut im Bauch ist ein extrem mächtiger Antrieb. So einfach kriegen sie uns nicht klein.

Was der Absender besagter Mail nicht wusste: Mein Uropa war mit seiner Frau ab 1940 im Widerstand und wurde 1943 verhaftet. Als sein Lager befreit wurde, hat ihn ein Genosse rausgetragen, er war nur noch Haut und Knochen. Wog mit seinen zwei Metern weniger als 50 Kilogramm. Jedes Mal, wenn ich in Berlin an Gebäuden aus der NS-Zeit vorbeigehe, frage ich mich, ob die Steine aus dem Steinbruch des Lagers stammen, das meinen Uropa fast umgebracht hat. Warum erzähle ich Euch das? Lasst uns bitte niemals, niemals vergessen: Wir sind Nutznießer einer äußerst glücklichen Anomalie namens Frieden und Demokratie in Europa. Viel zu viele in diesem Land begreifen nicht, wie zerbrechlich dieses Konstrukt ist. Und welcher Abgrund uns jenseits davon erwartet.

Ich habe mich in den letzten Monaten und Jahren oft gefragt: Was bedeutet eigentlich „wehrhafte Demokratie“? Was bleibt davon, wenn noch nicht einmal ein Treffen, bei dem die Vertreibung von Millionen von Menschen offen diskutiert wird, dazu führt, dass ein AfD-Parteiverbotsverfahren auch nur in Erwägung gezogen wird? Wann, wenn nicht jetzt, ist es an der Zeit, eine rote Linie zu ziehen? Wer, wenn nicht wir, erinnert die Entscheidungsträger daran – und wenn es Not tut, eben Woche für Woche für Woche, und Monat um Monat und Jahr um Jahr –, dass die Losung „Nie wieder“ verdammt noch mal auch mit Leben gefüllt werden muss, um in Zukunft noch irgendeine Bedeutung zu haben.

Und es stimmt, wir alle gehen dieser Tage gegen die AfD auf die Straße, gegen Rassismus und gegen Antisemitismus. Aber wir demonstrieren letztendlich auch FÜR die Vision einer Zukunft, die so viel schöner ist, als all die Hingespinste der Neuen Rechten, die nicht mehr zu bieten haben, als ein Zurück in die dunkelsten Stunden unserer Vergangenheit. Wir wollen ein Leben in Freiheit, Menschenwürde, Demokratie, Solidarität, Gleichberechtigung – und zwar für alle. Es geht um nicht weniger, als um all das, was das Leben verdammt nochmal schön und lebenswert macht. Wir stehen hier auch für ein Europa, in dem für immer Frühling ist.

Ich habe in den letzten Jahren oft an Rostock-Lichtenhagen gedacht. Bei jedem Brandsatz, der auf eine Geflüchtetenunterkunft geworfen wurde. Bei jeder Meldung über rechtsextreme Terrorzellen. Beim Anschlag von Hanau, als ein Rechtsextremist kaltblütig neun Menschen hinrichtete. Stets war da dieser Gedanke: Irgendwo da draußen ist ein Kind, das so alt ist wie ich damals, das mit seiner Familie gerade nach Deutschland gekommen ist. Und es ist mir ehrlich gesagt mittlerweile nicht mehr wichtig, ob alle AfD-Wählenden sehen, wie viele hunderttausende Menschen seit Wochen und Monaten im ganzen Land auf die Straße gehen. Viel zu viele von ihnen sehen sowieso nur noch das, was sie sehen wollen.

Aber ich will, dass jedes Kind, jeder Mensch, der jetzt gerade Angst hat – um sich, um seine Familie, um unsere Zukunft – die Bilder dieser Demos nicht nur sieht, sondern auch fühlt: Wir sind nicht allein. Und ich will, dass jeder Politiker, der sich erdreistet, die Narrative der AfD zu übernehmen, ein für alle mal versteht: So einfach lassen wir Euch damit nicht durchkommen!

Die Mehrheit hat viel zu lange geschwiegen. Aber genug ist genug. Lasst uns heut, hier und jetzt, einander in die Augen schauen und uns versprechen: Wir werden im Gegensatz zu manch einem Politiker, manch einer Partei, niemals, niemals umfallen. Komme was wolle. Lasst uns gemeinsam, jetzt und hier unsere rote Linie ziehen. Und diese rote Linie werden wir gemeinsam, mit aller Kraft und Entschlossenheit und Ausdauer verteidigen. Denn die oft beschworene Brandmauer, das sind letztendlich wir alle. Und wir haben gerade erst begonnen.

  • Redebeitrag anlässlich der Demonstration gegen Rechtsextremismus „Wir sind die Brandmauer“ am 25.02. in Hamburg

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3 Kommentare

  1. „, erwähne ich wegen Bedeutungslosigkeit nicht.“
    Ich will nicht behaupten, dass das eine Paralipse ist!

    Ich behaupte nach wie vor, dass man die AfD / andere Populisten einfach nicht beachten sollte. Das Geschäftsmodell ist „Mit Scheiße werfen, irgendwas bleibt schon kleben.“ – Gebt ihnen keine Wände, an denen das stinkende braune Zeugs hängen bleibt.
    Lasst Reichelt, Tichy und Co. einfach freidrehen und zu ihrer Glaubensgemeinde predigen. Die überhitzen doch in Windeseile, wenn deren Räder keine Traktion mehr haben. (Autovergleich, jeah!)

    Ihnen, Frau Nocun, alles erdenklich Gute für die Zukunft!
    Don’t let the bastards grind you down!

  2. Vielleicht etwas Offtopic, aber ein wichtiger Grundstein für mündige Bürger wird in den Schulen gelegt. Im gestrigen DLF-Hörsaal lief dazu ein interessanter – und gleichzeitig alarmierender – Beitrag ( https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/rechtswissenschaft-so-koennte-die-afd-die-schulen-veraendern ).

    Langsam beschleicht mich das ungute Gefühl, daß nur Demonstrieren nicht mehr ausreicht, um das drohende Ende von Demokratie abzuwehren. Für die weiße und männliche Mehrheit scheint die Gefahr noch immer zu unkonkret.

    Wie siehst du das? Wie kann mich sich konkreter engagieren?

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