Infostand-Impressionen im Wahlkampf-Ambiente

„Ihr habt doch kein Programm.“ „Kann ich ihnen eins anbieten?“ Ich schwenke ein 40 Seiten starkes, eng bedrucktes Heft in seine Richtung. „Nein danke!“ Er geht weiter. Ich lasse das Heftchen sinken. Unterschriften sammeln ist nicht immer einfach.

Eine ältere Frau eilt vorbei. Einkaufstüten in der Hand. „Können wir sie um eine Unterschrift bitten, damit wir zur Wahl antreten dürfen?“ Sie eilt weiter und wirft uns ein kurzes „Nein“ im Vorbeigehen zu. „Das ist aber schade, sagt meine Nebenfrau. Unsere Frauenquote beträgt heute 100%. „Ich werde für sie beten.“ „Na das ist doch schon mal viel wert,“ sagt die Piratin und wir lachen. Sie ist Direkt- und ich Listenkandidatin.

Eine Gruppe Jugendlicher nähert sich uns. „Hey, das sind die Piraten, die wollen ACTA killen.“ „Nein echt?“ „Ich schwöre, Mann. Auf jeden!“ Ich lächle. „Ja das stimmt, wir wollen ACTA stoppen.“ Sie schauen mich fast ehrfürchtig an. „Wollt ihr Aufkleber haben? „Sind die umsonst?“ „Klar!“ Sie graben in dem kleinen Berg auf unserem unprofessionellen Infotisch der liebevoll mit Privatspenden zusammengeschustert worden ist, bis jeder fündig wird. Dann stehlen sei sich davon, als würden sie befürchten, dass die Sticker doch nicht kostenlos sind.

Ich greife unter den Tisch und nehme einen Schluck Mate und beobachte Passanten. Es wird Herbst und die Leute eilen schneller durch die Fußgängerzone als noch im Sommer. „Wir sammeln Unterschriften um zur Wahl zugelassen zu werden.“ Unser Aufsteller macht sich bezahlt – immer wieder ändern Menschen zielgerichtet ihren Kurs und steuern den Infostand an. Ein Querschnitt aus allen Alters, Einkommens- und Bildungsschichten will anscheinend, dass wir antreten. „Passt euch bloß nicht an die da oben an.“ Ich verspreche es mehrmals an diesem Tag.

Die junge Frau blättert durch das Grundsatzprogramm und blickt dann auf mich: „Aber ihr wollt doch nicht ernsthaft Diebstal von geistigem Eigentum legalisieren?“ Wir diskutieren über Rechtedurchsetzung im Internet. Und stellen fest, dass wir beide nicht bei Facebook sind, weil der Datenschutz dort ein Witz ist. Das hat mich sehr gefreut. „Ich habe mich einfach abgemeldet“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. „Es war ganz einfach.“

Ein älterer Herr bleibt stehen. „Was Euch fehlt sind die Visionen für die Wirtschaftspolitik.“ Schnell entwickelt sich ein Gespräch über Staatsquoten, Bildungsausgaben, Anreizsysteme, Kündigungsschutz, Bedingungsloses Grundeinkommen, Leiharbeit und Wirtschaftszyklen, Benzinpreise und Wechselkurse. „Sie haben das studiert, das merkt man. Von den Piraten bin ich noch immer nicht überzeugt, aber ihnen persönlich wünsche ich für die Wahl alles gute.“ Ich habe ganz vergessen ihm ein Grundsatzprogramm anzubieten. Er hätte es wahrscheinlich doch eins mitgenommen.

Eine ältere Frau bleibt stehen und schaut sich unser Plakat an auf dem steht: „Lieber ein lächerlicher Name, als eine lächerliche Politik“. „Ich finde es ja gut, wenn junge Mensch Politik machen, aber…“ Als sie die Mitpiratin sieht, kommt sie ins stocken. „Du auch?“ Die Mitpiratin stellt sich dazu und zeigt sonnengebräunt Lachfalten um die Augen. „Ja, wir müssen etwas verändern, dafür ist es mal langsam Zeit.“ Man kennt sich von früher. Ich gehe wieder zum Infostand und fülle meinen Vorrat an Grundsatzprogrammen nach. Höre sie lachen inmitten der Fußgängerzonen-Geräuschkulisse aus klappernden Absätzen und Gesprächsfetzen.

Ich schwenke mein Grundsatzprogramm in Richtung eines jungen Mannes. „Politik, bleib mir bloß weg damit!“ Er eilt weiter die Fußgängerzone hinunter. Ich frage mich, ob er sich nie ärgert, wenn er Nachrichten liest.

Zwischendurch kommen immer wieder Passanten zielstrebig auf unseren Stand zu. „Wo kann ich unterschreiben?“ Ich reiche einen der vier Piraten-Kugelschreiber hinüber und zeige auf unsere Formulare. „Gleich hier. Kann ich dir noch ein Grundsatzprogramm dazu anbieten?“ „Brauche ich nicht.“ Ein Grinsen. „Hab ich mir online durchgelesen.“ Wir lachen. Nach solchen Gesprächen werden unsere Aufkleber „Ich wähle Piraten“ besonders gerne eingesteckt. Für den Rechner. Und den Zweitrechner.

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