„Ich interessiere mich nicht für Politik“

Du sagst, Du interessierst dich gar nicht für Politik und nimmst noch einen Schluck von deinem Bier. Ich glaube es soll cool rüberkommen, tatsächlich hat es in dem Moment eine ganz andere Wirkung auf mich.

Ich bin fassungslos.

Nicht, weil ich solche Sätze nicht schon einmal gehört hätte. Das ist leider nicht der Fall. Tatsächlich höre ich sie öfters. Meist kommen mildernde Umstände hinzu. Private Schicksale, die einfach alles überlagern. Einer hat mit dem Baby so viel um die Ohren, dass vieles hinten runter fällt. Eine andere nimmt sich krankheitsbedingt eine Auszeit. Sich für ein paar Tage ausklinken kann ganz heilsam sein. Aber permanent?

Ich versuche das auch manchmal. Mich nicht für Politik zu interessieren. Aber es klappt nicht. Nie. Und das ist auch kein Wunder. Gentechnik? Pestizide? Warnhinweise wegen E-Nummern auf den Wasabi-Nüssen. Was wir essen, ist Politik. Elternzeit? Recht auf Kita? Wie viele Spielplätze es in einem Viertel gibt. Alles Politik. Befristeter Job? Mindestlohn? Und die Frage, ob HartzIV-Empfänger Bezüge gesperrt bekommen dürfen, wenn sie sich sinnfreien Beschäftigungsmaßnahmen verweigern. Politik.

Politik entscheidet über den Zustand der Straße vor der eigenen Haustür und hat Einfluss darauf, wie oft Bus und Bahn bei mir pro Tag halten. Ob es einen Fahrradweg gibt. Oder nur Parkplätze für PKW. Deshalb ist der Satz „Ich interessiere mich nicht für Politik“ genau genommen eine Lüge. Immer. Keiner kann allen Ernstes behaupten, dass einem die Rahmenbedingungen für das eigene Leben egal wären. Sich bewusst aus dem politischen Prozess auszuklinken bedeutet vor allem eines: Andere entscheiden. Mag sein, dass Du Dich nicht für Politik interessierst. Doch die Politik interessiert sich in jedem Fall für Dich.

Zu sagen, man interessiere sich nicht für Politik ist ganz nebenbei auch so als würde man sagen: Meine Mitmenschen interessieren mich nicht. Frei nach dem Motto: „Meine Eltern zahlen die Miete, was interessiert mich Euer Bafög?“ Mir ist es nicht egal, ob Alleinerziehende keine Kita finden. Mir ist es nicht egal, wenn Freunde von ihrem fünften befristeten Job in Folge berichten. Oder wenn Menschen um ihr Visum bangen. Wem das Schicksal seiner Mitmenschen nicht wichtig genug ist, um selbst so eine minimale Anstrengung wie „Wählen Gehen“ auf sich zu nehmen, der sollte bitte seine Prioritäten überdenken. Es mag der Tag kommen, an dem man sich selbst diese minimalste Form der Solidarität von seinen Mitmenschen wünscht.

Je nachdem mit wem man spricht wirkt „Ich interessiere mich nicht für Politik“ auch sehr ignorant. Wenn ich frage, warum Menschen aus ihrer Heimat nach Deutschland gekommen sind, spielt Politik oft eine große Rolle. Türkische Freunde, die nun jedes Mal Angst haben wenn sie ihre Eltern besuchen fliegen, wissen vermeintlich selbstverständliche Dinge wie Meinungs- und Pressefreiheit ganz anders zu schätzen. Der US-Kommilitone, der sich mit fast 100.000 US-Dollar verschuldet hat, um seinen Bachelor zu machen, sieht unser Bildungssystem mit ganz anderen Augen. In Syrien herrscht Krieg. Den Luxus, so zu tun als gäbe es Politik nicht, kann sich nicht jeder erlauben.

Mag sein, manche Menschen interessieren sich nicht für Parteien. Aber sehr wohl für das Ergebnis von Politik. Sich darüber zu beklagen, man sei damit überfordert alle paar Jahre ein Kreuz auf einen Zettel zu machen und sich danach zumindest oberflächlich darüber informieren, wie es weitergeht, ist ganz schön bequem. Aber sich einen Überblick über die politische Lage zu einem x-beliebigen Thema zu verschaffen ist tatsächlich einfacher, als nach sieben Staffeln „Game of Thones“ noch den Überblick darüber zu behalten, wer eigentlich wen umgebracht hat.

Zu sagen man interessiere sich nicht für Politik ist in etwa so als würde man sagen, dass man sich nicht für die Welt interessiert. Das ist weder cool noch ist es aufregend. Sondern extrem langweilig.


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9 Kommentare

  1. Zu behaupten Leute sind idiotisch, weil sie sagen sie interessieren sich nicht für Politik, ist schlichtweg falsch und ziemlich überheblich.
    Wie im Beitrag erwähnt gibt es Menschen in schwierigen Situationen die von Politik zwar betroffen sind (wie Bsp. Die alleinerziehende Mutter, die nur schwer einen Kitaplatz findet), aber wenn sie sagt sie interessiere sich nicht für Politik, liegt es schlicht und ergreifend eher daran, dass sie sich in ihrer wenigen Freizeit einfach nicht damit befasst.
    Wenn jemand sagt, er interessiere sich nicht für Politik, sollte man doch meinen man wäre klug genug zu verstehen, dass es einfach nur bedeutet, man liest nicht den ganzen Tag was in der Welt so los ist. Und sich aus Politik weitgehend auszuhalten ist kein Verbrechen. Manche Menschen wollen einfach nur ihr Leben leben und sich nicht ständig über Dinge aufregen müssen, was alles so falsch läuft in unserer Welt. Das nennt sich auch Selbstschutz, um keinen Weltschmerz zu spüren.

  2. Ich bleibe dabei. Interessiert mich nicht. Ja, Menschen interessieren mich genauso wenig. Wenn der Herr, mit seinem alrgriechisch, meint ich wäre ein Idiot. Von mir aus, jeder darf ne eigene Meinung haben, nur interessieren muss die niemand.

  3. Das ist nunmal genau meine Sichtweise. So lange ich und meine Familie/Verwandte glücklich sind, was jucken mich denn andere Menschen? Gut, ich würde nicht wegschauen, wenn grad jemand in Not ist, aber sich für eine Partei einzusetzen und einen auf Politiker/Aktivist machen? Ne sehe ich nicht ein. Als ob meine mickrige Stimme was bringt. Ich sehe die Welt einfach Schwarz und Weiß. Meiner Meinung nach bringt es mir nichts wählen zu gehen. Habe auch nie gewählt und bin schon 31 Jahre alt. Ich habe meine 9-18Uhr Job, mache mein Ding, habe meine Hobbies und mein Geld.

  4. Sobald von einer Situation mehr als eine Person betroffen ist, ist es Politik.

  5. Ich denke nicht jeder hat ein Interesse daran Einfluss zu nehmen. Auch auf die von dir genannten Dinge die ihn direkt betreffen könnten nicht.
    Die Gründe dafür sind vielfältig, vieles ist ein „Ich kann sowieso nichts ändern“, anderes ist ein „Was passiert ist für mich sowieso schon ganz okay“ und anderes ein „Da befassen sich schon genug Leute mit“. Man kann sich auch raushalten, weil man anderer Meinung ist, sich aber sicher sich nicht durchzusetzen. Oder man ist schon resigniert dass es alles nichts wird.
    Ich halte das für Legitim. Klar, „wir“ regen uns auf, wenn jemand nicht bereit ist auf eine Demo zu gehen. Sind empört wenn jemand nicht mal wählt. Aber warum eigentlich? Jeder hat ein Recht gleichgültig zu sein. Eine Pflicht etwas ändern zu wollen kann es nicht geben, denn es könnte (wenn auch eher unwahrscheinlich) ja auch jemanden geben, der exakt die Meinung hat, welche die Politik gerade vertritt.
    Den kann man jetzt ja nicht dazu drängen etwas daran ändern zu wollen.

  6. „Wer sich nicht mit Politik befasst, hat die politische Parteinahme, die er sich sparen wollte, bereits vollzogen.“ – Max Frisch

  7. Viele verwechseln Politik mit dem täglichen Merkel-Merz-Scholz-AKK-hat-gesagt-Ritual der Tagesschau. Und das dies jemanden nicht interessiert kann ich verstehen. Ansonsten volle Zustimmung. Jemand, der sich nicht für Politik interessiert, interessiert sich nicht für das Gemeinwesen. Interessiert sich nicht für das Zusammenleben und Funktionieren der Nachbarschaft. Für diese Menschen gab es im Altgriechischen ein Wort: Idiotes.

  8. […] Politik regelt unser aller Zusammenleben. Ein Thema also, das jede angeht. Es ist schlicht unmöglich durch den Alltag zu kommen, ohne dabei ständig auf Politik zu stoßen. Das hat Katharina Nocun bereits ausführlich erklärt. […]

  9. Nun, das Schlechte ganz zum Anfang: „POLITIK IST EINE HURE UND WIRD ES LEIDER AUCH IMMER BLEIBEN!“

    Bei meinen ersten kläglichen SocialMedia-Anläufen fand ich es noch cool und bemerkenswert meinem Profil bei POLITISCHER EINSTELLUNG den Stempel U N P O L I T I S C H öffentlich preiszugeben, einfach weil es die inhaltsloseste bzw. (fast) datensparsamste Variante in meinen Augen darstellte… ( :

    Unpolitisch ist natürlich kein Mensch. Leben ist Politik!! Sowohl auf kleinster (familiärer) Ebene wie z. Bsp. im Sportverein als auch natürlich auf ganz großer internationaler (geostrategisch) politischer Ebene. Politik heißt Verhandlung! Politik findet den Kompromiss! Und Politik bestimmt unsere Zukunft!

    Vollkommen zurecht heißt es gerade in dieser schwierigen Zeit des Wandels Stellung zu beziehen und nicht mehr wegzuschauen!

    PRDGMN
    WCHSL
    NOW

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