Der gute Mensch

Es gibt Menschen, die machen, das man sich gut und schlecht zugleich fühlt. Gut, weil man froh ist sie an seiner Seite zu haben. Schlecht, weil man weiß, dass sie immer besser darin sein werden, das zu sein, was man gemeinhin als einen guten Menschen bezeichnet. Sarah* ist so ein Mensch. Als eine unserer gemeinsamen Leidenschaften ist es, neue Orte zu entdecken. Daher begeben wir uns regelmäßig auf die Suche. Vor einigen Monaten spazierten wir bei einer dieser Expeditionen durch eine der schickeren Berliner Einkaufsstraßen. Es war Winter und so kalt, dass jedes Seufzen von weitem sichtbar war.

Wir waren in ein Gespräch vertieft. Worum es ging, ist nebensächlich. Wichtig war, dass Sarah plötzlich verschwunden war. Ich blieb ruckartig stehen und schaute mich um. Sah ihren roten Mantel gerade noch in einer Seitenstraße verschwinden. Auf dem Absatz machte ich kehrt und folgte dem Farbfleck. Wenige Sekunden später stand ich vor ihr.

Sie hatte auf der schwarzen Fensterbank einer Edelboutique Platz genommen und war gerade dabei ihre Leggins auszuziehen. So als wäre es das normalste der Welt. Dabei redete sie ruhig, aber bestimmt auf den sichtlich überrumpelten Mann neben ihr ein. „Das ist kein Problem. Wirklich. Ich habe darunter noch eine Strumpfhose an, die ist total warm.“ Als ihr Blick an ihren Socken hängen blieb, lächelte sie mit einem Mal sehr glücklich. „Das sind Wollsocken, die sind extra-warm“, sagte sie und hielt dem Mann neben sich schon einmal das erste Kleidungsstück hin. Nun waren die Socken dran. Einige Passanten beobachteten dieses Schauspiel sichtlich irritiert. Sarah kümmerte es nicht. Sie war vollauf beschäftigt damit, das richtige zu tun.

Jetzt erst sah ich, dass der Mann unten rum nur einen kurzen Rock und offene Schuhe an hatte. Seine Fußnägel waren farbig lackiert. Die Haut an seinen Beinen war von blauen Adern durchzogen. So war er uns entgegen gekommen. Ich hatte einfach weitergeredet und schäme mich jetzt dafür. Sie lächelt ihn noch einmal an, als sie aufsteht. Dann läuft sie los und redet weiter, als sei nichts geschehen. Dabei war die Nummer, die sie da eben abgezogen hat, gradios. Das hatte 1000 Mal mehr mit Nächstenliebe zu tun, als die Weihnachtsauslage der Edel-Buchhandlung, die wir passierten. So etwas „macht man einfach nicht“. Selbst nicht zu Weihnachten.

Was die gute Tat angeht, ist Sarah Wiederholungstäterin. Für sie ist es so selbstverständlich, das richtige zu tun, dass es ihr nicht einmal eine Randnotiz wert ist. Einmal erschien sie mit einem Schuhkarton zum Treffen. Als ich sie zu den neuen Wanderschuhen beglückwünschte, winkte sie ab. Die seien doch viel zu groß für sie. Außerdem habe sie doch schon welche. „Die Guten, na du weißt schon“, (ich erinnere mich). Nein, das seien nicht ihre Schuhe. Leider könne sie den Mann am Bahnhof nicht mehr finden, der dort Tags zuvor noch gesessen hatte. Jemand habe seine guten Schuhe geklaut, hatte er ihr erzählt. Die an seinen Füßen waren mehr Loch als Schuh.

Sie hatte versprochen wieder zu kommen – mit Schuhen. Weil es so schrecklich kalt war beschloss sie sogar, richtig gute Schuhe zu kaufen. Witterungsfest und mit Kälteschutz. Dadurch hatte es leider etwas länger gedauert. Da war der Mann schon nicht mehr da. Ich kann es ihm nicht verübeln. Mit Menschen wie Sarah rechnet man schließlich gar nicht mehr. Die gibt es heutzutage eigentlich nur noch in Dokumentationen.

Die Unsichtbaren

Es kam der Frühjahr. Dann der Sommer. Letzte Woche rief sie mich an und sagt mit trauriger Stimme, sie müsse etwas loswerden. Ein Erlebnis, dass sie nicht loslässt. Es ereignete sich vor wenigen Tagen, nachdem sich unsere Wege trennten. Es war ein lauer Spätsommerabend. Vor den Cafés und Kneipen waren alle Stühle besetzt. In der Luft lag Musik und Lachen. Sie fuhr durch Kreuzberg mit dem Rad heim. In der Nähe des Kottbusser Tors trat sie in die Bremse. Ein Mann lag regungslos mitten auf dem Gehweg.

Das kann in der Gegend, um die Uhrzeit, passieren. Touristen, Jugendliche und Halbstarke, die weniger vertragen als gedacht, gehören zum Straßenbild. So weit, so wenig gewöhnlich. Allerdings war dieser Mann irgendwie besonders. Dieses Besondere erregte Sarahs Aufmerksamkeit. Betont beiläufig umschifften ihn die Passanten. Unübersehbar lag er mitten auf dem Gehweg. Und doch schien er für die Umstehenden unsichtbar zu sein. Als wäre das seine Superkraft.

Als Sie sich zu ihm herunter beugte und an ihm rüttelt, kam keine Reaktion. Jedenfalls nicht wirklich. Er atmete offensichtlich, war aber vollkommen weggetreten. Es hätte alles zwischen Alkoholvergiftung, Überdosis und Schwächeanfall sein können. Daher beschloss sie, Hilfe zu rufen. Ihr Handy hatte den Geist aufgegeben. Das bedeutete: Sie musste Passanten ansprechen. Viele liefen vorbei. Einige schauten durch sie hindurch, als wäre sie Luft. Sarah blickte an sich hinunter auf der Suche nach einer Erklärung. Und stellte fest, dass man sie mit der großen blauen IKEA-Einkaufstüte und den FlipFlops auch für eine Bettlerin halten könnte.

Schließlich erbarmte sich eine Frau und erklärt sich bereit, über ihr Smartphone beim Notdienst anrufen zu lassen. Eine älter Dame, mit der Familie unterwegs. Endlich, ein guter Mensch, will man meinen. Schon während Sarah die Nummer wählte, wippte die Frau ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Als der Anruf in der Warteschleife des Rettungsdienstes landet fragt Sarah, ob es OK sei, eben zu warten. Sarah selbst hält die Frage für eine Formalität. Die Frau aber verzieht das Gesicht. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass jemand gerade auf dem besten Weg ist, ihr den Abend zu versauen. „So wirklich passt mir das gerade aber nicht“, presst sie über die Lippen. Neben ihr liegt während dessen der bewusstlose Mann auf dem Beton. Der nicht wissen kann, dass er gerade ungelegen kommt. Die Frau würdigt ihn keinen Blickes, als sie davon rauscht.

Von einem nahe gelegenem Imbiss ruft Sarah schließlich doch den Rettungsdienst. Auch dort wieder Warteschleife, doch diesmal kein Problem. Zwischendurch stellt sich ein Passant dazu. „Du bist nicht von hier, oder?“, fragt er, den Blick auf Sarah gerichtet. So als würden bewusstlose Menschen für Großstädter automatisch unsichtbar. So, als müsste man sich dafür entschuldigen, ein guter Mensch sein zu wollen. Sarah schüttelt verwirrt den Kopf. Irgendwann kommt die Feuerwehr und erlöst den Passanten. Er eilt weiter. Sarah schwingt sich aufs Rad und fährt langsam heim.

Wir lieben Hunde mehr als fremde Menschen

Der Wissenschaft zufolge ist Sarah vor allem deshalb ein guter Mensch, weil sie sich wie keiner verhält. Der Mensch ist ein Herdentier. Geht es um Freunde und Familie, überschlagen wir uns mit Hilfsbereitschaft. Wenn Menschen jedoch der Notsituation eines Fremden beiwohnen, ist das individuelle Verantwortungsgefühl dahin. Jeder hofft insgeheim, dass ein anderer die Initiative ergreift. Keiner fühlt sich zuständig. Am Ende hilft oft niemand. Unsere Urinstinkte können tötlich sein.

Sollte ich einmal einen Schlaganfall haben, hoffe ich in dem Moment möglichst gut gekleidet zu sein. Schließlich könnte mein Leben davon abhängen. 2016 kollabierte ein 82-Jähriger Mann im Vorraum einer Essener Bank. Die Überwachungskamera zeigte später, wie Kunden einfach über ihn hinweg stiegen ohne zu helfen. Während der Mann aus dem Leben schied, wurden neben ihm Überweisungen getätigt und Geld wurde abgehoben. Vor Gericht beteuerten die später wegen unterlassener Hilfeleistung Angeklagten, sie hätten den Mann für obdachlos gehalten. So, als wäre das eine Entschuldigung. So, als wäre es dann OK gewesen so zu tun als wäre der Sterbende unsichtbar. So weit ist es schon mit uns gekommen.

Kein Wunder, dass manche Menschen Hunde für den besten Freund des Menschen halten. Der Mensch ist es jedenfalls nicht. Die Mehrheit der Menschen wäre laut einer psychologischen Studie eher bereit einem Hund in Not zu helfen, als einem Obdachlosen. Menschen mit Behinderung sheen sich mit ähnlichen Abwehrreaktionen konfrontiert. Wer uns fremd ist, kann nicht auf uns zählen. Keiner denkt daran: „Was wäre, wenn dieser jemand ich wäre?“

Du bist nicht von hier, oder?

Du bist nicht von hier, oder?“, diese Frage habe sie nachdenklich gemacht, erzählt Sarah mir am Telefon. Streng genommen ist sie „von hier“. Und zwar schon eine ganze Weile. In letzter Zeit habe sie jedoch in der Tat eine Veränderung an sich bemerkt. Sie glaubt, sie sei kein guter Mensch mehr, sagt sie mir mit trauriger Stimme. Nicht sofort habe sie angehalten, als sie den Mann auf dem Boden liegen sah, beichtet sie betreten. Erst nach einigen Metern wendete sie das Rad. Vor einigen Monaten noch wäre das undenkbar gewesen. „Ich will nicht abstumpfen, aber es ist einfach so viel“, hauchte sie erschöpft ins Telefon. Sie kann nicht allen Schuhe besorgen. Für mich ist sie trotzdem eine Heldin. Auch der beste Mensch ist eben auch nur ein Mensch.

Durch sie weiß ich, wo im Winter die Not-Schlafunterkünfte und im Sommer die Hygienestellen sind. Im Winter gibt sie Kaffee aus. Im Sommer verschenkt sie Eis. Manchmal assistiere ich dabei und drehe vorbestellte Zigaretten. Ich finde sie passt gut nach Berlin. Mehr Menschen, die nicht wegsehen, kann diese Stadt gut gebrauchen. Wenn wir alle versuchen würden, nur ein wenig mehr wie sie zu sein, wäre diese Stadt ein besserer Ort. Ein Ort, an dem man nicht für seltsam gehalten wird, weil man zumindest manchmal versucht, ein guter Mensch zu sein.

Den nächsten Menschen, der anderen Hilfe in Not verweigert werde ich fragen: „Du bist nicht von hier, oder?

Irgendwo muss man ja anfangen.

* Name geändert. Wenn Ihr diesem guten Menschen einen Kaffee ausgeben wollt, bitte „Sarah“ im Überweisungsbetreff angeben. Ich leite es weiter.


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2 Kommentare

  1. Sarah hat zum Glueck Helfer gefunden. Ich wartete ca. eine Stunde gegenueber eines „Polizeibschnitts“(!), bis nach dem x-ten Anruf endlich ein Rettungswagen kam.
    Was die Menschen zur Zeit dringend brauchen ist Wasser. Und der Blick, Dehydrierung zu erkennen.
    Mehr Sahrahs auf dieser Welt wuensch ich mir. Weitermachen! Und Danke fuer diese wunderbare Geschichte.

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