Chemnitz ist überall

Ich war heute vor der Tür. Beim Supermarkt, dann noch schnell eine Bestellung abholen. Eigentlich nichts Besonderes. Der gestrige Tag hat es aber besonders gemacht. Ohne Angst seine Wohnung verlassen zu können ist in einigen Regionen Deutschlands keine Selbstverständlichkeit mehr. Während ich in der Schlange beim Bäcker anstehe, trauen sich in Chemnitz Menschen nicht aus dem Haus. Weil sie Angst davor haben, wegen ihres Aussehens angepöbelt, beschimpft oder gar bedroht zu werden. Weil sie Angst vor rechter Gewalt haben.

Nicht nur ich bekomme die Szenen der letzten Tage nicht mehr aus dem Kopf. Rechtsextreme marschieren an der Polizei vorbei und zeigen den Hitlergruß. Ein Mob steht vor einem Haus, in dem sich ein Gegendemonstrant befinden soll, und brüllt „Holt ihn raus! Holt ihn raus!“. Eine Gruppe Männer jagt einen Migranten. Aus dem Off hört man eine Frauenstimme „Hase, Du bleibst hier“. Nicht: „Hört auf!“ oder „Lasst den Scheiß“. Nein, „Hase“ soll sich nur nicht selbst die Finger schmutzig machen. Auch das ist Deutschland.

„Freund und Helfer“

Die Polizei gibt an, überfordert gewesen zu sein. Aber: Was hat man denn bitte erwartet? In sozialen Netzwerken haben Rechtsextreme für jedermann sichtbar mobilisiert. Dass es in Sachsen eine gut vernetzte und auch gewaltbereite Nazi-Szene gibt, ist kein Geheimnis. Müsste man eigentlich wissen, bei den vielen V-Männern auf der Gehaltsliste des sächsischen Verfassungsschutzes. Bei G20 hat die Vermummung einiger wenigere ausgereicht, um eine Versammlung aufzulösen. In Chemnitz fliegen Flaschen. Steine. Böller. Aus der Menge hört man es rufen: „Für jeden toten Deutschen, einen toten Ausländer“. Journalisten berichten von körperlichen Angriffen. Und es passiert: Nichts.

Dass Journalsten kürzlich bei einer Pegida-Demo von der Polizei grundlos festgehalten werden, hat mich leider nicht wirklich überrascht. Das Vertrauen ist ist im Keller. Einmal habe ich einen in Sachsen wohnhaften Bekannten gefragt, ob er zur Polizei gegangen sei, nachdem ihn Nazis verprügelt hatten. Er sah mich an, als sei ich wahnsinnig: „Dann hätten die doch auch noch meine Adresse.“ Natürlich sind das Einzelfälle. Natürlich soll man nicht verallgemeinen. Aber in einem Rechtsstaat dürften solche Einzelfälle eigentlich gar nicht erst passieren. In Chemnitz hatten einige Presse-Teams extra eigene Securitykräfte angeheuert. Sicher ist sicher. Die Polizei ist anscheinend in Chemnitz kein Garant mehr für Sicherheit.

Wer will so leben?

Chemnitz bewirbt sich um den Titel der Kulturhauptstadt Europas für das Jahr 2025. Keine Imagekampagne dieser Welt kann den Schaden, der in diesen Tagen angerichtet wurde, wieder gut machen. Auf der Homepage heißt es: „Die Spannung zwischen Identität und Veränderung ist ein zentrales europäisches Thema. Ich bin überzeugt, dass Chemnitz eine starke, faszinierende Kulturhauptstadt sein kann.“ Faszinierend – ja. Ob viele Menschen dort derzeit Urlaub machen wollen, wage ich aber zu bezweifeln.

AfD & Co. haben kein Interesse daran, dass die Region um Sachsen wirtschaftlich auf die Beine kommt. Sie selbst schaffen den Nährboden, auf dem ihre Parolen besonders gut gedeihen. Nicht Ausländer nehmen den Menschen in Chemnitz die Arbeitsplätze weg. Rechtsextreme verhindern, dass Jobs entstehen. Welche gut ausgebildete Fachkraft will, dass die eigenen Kinder in einem Klima der Angst aufwachsen? Wen wundert es, dass junge Leute wegziehen? Unternehmen geben in diesen Tagen intern die Bitte an Mitarbeiter raus, vorsichtig zu sein. Oder besser gleich daheim zu bleiben. Für Firmen mit einer internationalen Belegschaft ist es unmöglich so zu arbeiten. Es ist unmöglich so zu leben. Dieser Hass ist es, der Sachsen kaputt macht. Nicht „die Ausländer“.

Rechtes Framing

In der Tagesschau heißt es am Montag Abend:

„Rund tausend Rechte sollen den Aufrufen in den sozialen Netzwerken gefolgt sein. Ihnen gegenüber stehen, sollen 3000 linke Demonstranten.“

Dieses Framing ist gefährlich. Denn es ist das Framing der Rechten. Wer sich Rechtsextremen entgegen stellt, der ist nicht automatisch Links. Der ist in erster Linie einfach nur Nicht-Rechtsextrem. Sind wir schon so weit, dass alles jenseits von Hitlergrüßen auf offener Straße Links ist? Gerade deshalb ist das Schweigen des Innenministeriums zu Chemnitz umso verstörender. Diese neue „Mitte“ macht mir Angst. „Antifaschisten bekennt Euch und kommt zur Christlich-Demokratischen Union Deutschlands“, haben die Konservativen nach dem Krieg plakatiert. Aber das ist lange, lange her.


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2 Kommentare

  1. Für jeden aufrechten Demokraten wird Deutschland zunehmend zu einer no-go-Area. Wer aus der geschichte Nichts lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

  2. Hallo Kattascha,

    dies ist leider nur der hundertste Beitrag der von Außen über Chemnitz verfasst wurde. Ich war auf einigen Gegenkundgebungen von Cegida oder zuletzt dem Dritten Weg am 1.Mai diesen Jahres in Chemnitz. Nie konnten Nazis in Chemnitz so mobilisieren wie am Sonntag und Montag, meist warens ein paar hundert, selten kamen mehr als 500.

    Chemnitz hat kein internationales Klima in der Stadt, die Universität und die (ausländischen) Studenten leben weitestgehend unter sich. Seit meine (nicht-deutsche) Freundin mit mir in Chemnitz wohnt, erfahre ich viel mehr alltägliche Schwierigkeiten für Ausländer in der Stadt. Weniger geht es um Rassismus, mehr um generellen Umgang und die ostdeutsche Grieskrämigkeit gepaart mit sehr wenig Deutschkenntnissen.

    Mit jedem Beitrag über rechte Hochburgen und mit jedem ausgestreckten Zeigefinger („Die Sachsen…“) zieht man die Gräben tiefer zwischen rechts und links. Die bürgerliche Mitte versuchte bisher an diesem Konflikt kaum teilzunehmen, mal sehen ob es so bleibt.

    Ich werde Chemnitz berufsbedingt in absehbarer Zeit verlassen. Selten habe ich mich so sehr darüber gefreut wie aktuell und trotzdem kann man die Menschen und vor allem diejenigen, die nach Chemnitz zugereist sind, nicht alleine lassen. Während Rest-Deutschland angewidert mit dem Finger auf den braunen Rand zeigt.

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